Kolumne

Große kleine Banalitäten

Im Moment über Banalitäten zu sprechen mag auf den ersten Blick fast schon nach Gleichgültigkeit schreien. Aber dem ist nicht so. In Wahrheit sind Banalitäten wie diese, von der ich gleich erzählen werde, wie viele Sitzbänke mit Rückenlehne und Sonnenschirm auf einem langen, steilen Weg.

Gerade sitze ich auf einer solchen Bank. Ich muss mich kurz ausruhen. Ich lehne mich zurück. Nur für einen kurzen Moment. Einen Moment, in dem ich nicht an die erdrückenden Geschehnisse, an Faschisten, Rechtsradikale und Antidemokraten und deren bildungsfreie Phrasenfriedhöfe denken muss, die einem fast die Kehle zuschnüren. Einen Moment lang muss ich über etwas anderes sprechen und an etwas anderes denken, bevor ich vor Kraft strotzend weiterlaufen werde.

Ich möchte von Rüdiger erzählen, einem chinesischen Schopfhund. Setzten Sie sich doch, auf der Bank ist noch Platz.

Rüdiger also. Rüdiger ist klein, sein Augenabstand dafür umso größer. Bis auf die weißen, langen Haarbüschel rund um seinen Kopf ist er nackt. Seine Haut schimmert in pink-weißen Flecken auf seinem schlanken Körper. Inzwischen ist Rüdiger vier Jahre alt und “aus dem Gröbsten raus”, wie mir Udo, Rüdigers Herrchen, neulich erzählte.

Als ich Rüdiger zum ersten Mal sah, wedelten seine langen Kopfsträhnen wild umher, denn er war in Rage. Er bellte und knurrte und ärgerte sich bei voller Leibeskraft über meinen großen schwarzen Hund, dessen lange, dichte Locken eine Ode an die unberührte Landschaft Islands sein könnten. Es schien, als würde Rüdiger gleich zum Sturzflug ansetzen, um meinem Hund die Kehle zu durchtrennen.

Aber Udo beschwichtigte ihn, in einer Sanftheit und Liebenswürdigkeit, die mich tief beeindruckten. Udo streichelte Rüdigers nackte Haut, bis er sich endlich beruhigte und es sich wieder passgenau in Herrchens Armen gemütlich machte, bis nur noch sein Kopf und der tropfende Speichel auf Udos Cordjacken-Ärmel zu sehen waren.

Udo, ein sportlicher Bautechniker Anfang 50, erzählte mir, warum er sich für Rüdiger entschied. Ausschlaggebend war ein Abend unter Kollegen in einem chinesischen Restaurant. Udo erzählte mir von seinem Glückskeks, auf dem ein chinesisches Sprichwort stand. Das lautete so: „Der krumme Baum lebt sein Leben, der gerade Baum wird ein Brett.“

Udo, der schon lange einen Hund haben wollte, stieß einige Zeit später auf eine Annonce mit Bild, in der ein kleiner chinesischer Schopfhund dringend ein neues Zuhause suchte.

Ohne den Glückskeks und ohne Rüdiger würde ich jetzt nicht hier sitzen, auf der Bank.
Ich bin dankbar für jeden krummen Baum…

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