Kolumne

Ein Ritual

Es war noch früh am Morgen. Ich teilte mir das Café mit zwei Frauen, die am Fenstertisch saßen und sich offensichtlich einiges zu erzählen hatten. Es war schön ihnen zuzusehen, mit wieviel Freude sie sich ihrem Gespräch hingaben. Unter ihrem Tisch stand ein Rauhaardackel. Seine bunte Stoffleine war an einem Stuhlbein befestigt. Mit seinen vier kurzen Beinchen stand er wie angegossen neben der schlaffen Leine und sah mich mit starrem Blick an. Er hatte mich im Visier. Und ich ihn. Wer zuerst blinzelte, verlor.

Am Tisch neben mir saß später ein Mann mit ausgewaschenen Jeans, Leinenhemd und kurz gelocktem aschblondem Haar. Ein bisschen sah er aus wie Matthew McConaughey in den Neunzigern- nur etwas älter.

Er erinnerte mich aber auch an meinen Deutsch-Lehrer aus der zehnten Klasse, der Tolstoi auf dem Nachttisch liegen hatte und morgens, zu seinem Earl Grey mit Milch, Honig und Zitrone, „Anna Karenina“ las wie andere ihre Zeitung zum Café. Jedenfalls erzählte er das immer.

Ehrlich gesagt fiel es mir immer schwer, das zu glauben. Ich bezweifelte nie, dass er viel las. Auch nicht Tolstoi. Aber der Gedanke, sich schon am frühen Morgen mit den Moralvorstellungen und der Ehe in der adeligen russischen Gesellschaft auseinanderzusetzten, schien mir irgendwie abstrus.

Ein Klassenkamerad erzählte unserem Lehrer dann im Gegenzug auch immer von seinem Morgenritus. Allerdings ging es dabei weder um Tee noch um Literatur-Klassiker. Dafür aber um Heavy Metal, Mötley Crüe und um einen Schluck Cola aus der Flasche.

Jedes Mal, wenn die beiden diese Unterhaltung führten, wurde mir ganz anders. Ich steckte also nicht mehr nur in einem Alter, in dem meine Emotionen und Gefühle andauernd Achterbahn fuhren, was schon anstrengend genug war, sondern ich stellte jetzt auch noch fest, dass ich keine nennenswerten Riten pflegte. Weder morgens noch abends. Und diese Erkenntnis war eine mittelschwere Krise für mich.

Für Riten blieb mir morgens eigentlich aber auch keine Zeit. Denn ich hatte ohnehin ein großes Problem mit der Zeit. Sie nahm keine Rücksicht auf mich und ich nahm es ihr übel, oder sie mir. Kurz gesagt: Ich war „die fleischgewordene Wiederkehr des Zuspätkommens. Aber eine unglaublich liebenswürdige“. So stand es jedenfalls in der Abizeitung.

Die Kellnerin brachte mir meinen Tee und der Rauhaardackel starrte inzwischen jemand anderes an. An der Wand neben dem Tresen hing ein Bild. Da stand: „Everything, in time“.
Vor ein paar Jahren kaufte ich mir dann „Anna Karenina“. Und jetzt laufe ich jeden Morgen mit einem Lächeln daran vorbei.

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