Menschen

Ein kleiner Ausritt in die Vergangenheit mit Franz Keller

Vom Schalengga und andere Geschichten

Kappel, ein kleiner Ortsteil von Pfronten mit etwa 300 Einwohnern, darunter sogar ein paar Einwanderer. Für Viele eher nichtssagend, für Andere weit aus mehr als nur eine kleine Ortschaft. Zu sehen sind manche Straßen, noch zu eng für große Neuwägen, einige Häuser dreimal so alt wie ihre Besitzer und Bewohner, noch im selben Haus sesshaft wie der Urgroßvater. Wir durften einen Nachmittag bei Franz Keller verbringen. Ein Urgestein Kappels, mit, für Urpfrontner typisch eigenem Hausnamen (der „Siasse Hans“) und über Jahrhunderte lang nachweisbarem Stammbaum, um uns über das jährlich stattfindende „Schalenggenrennen“ in Pfronten-Kappel, zu unterhalten. Doch der jahrelange Mitveranstalter, „Historiker Kappels“ und Hobbyfotograf konnte uns neben den wirklich tiefen Wurzeln dieser Faschingsveranstaltung weitaus mehr erzählen, als wir zunächst eigentlich erwartet haben.

Seit 1976 findet das Schalenggenrennen, mit ein paar seltenen Ausfällen, jährlich am Faschingssamstag, statt. Über 200 verkleidete Teilnehmer treten in Teams an, um den 1.000 Meter langen Hang vor Kappel auf einem über 15 Kilogramm schweren hölzernen Hörnerschlitten, dem „Schalengga“, hinunterzurasen. Der Original-Schlitten, wie früher, beladen mit Holz oder Heu, ist hierbei ein Muss. Spektakuläre Szenen, aber vor allem die manchmal wildererartig verkleideten Fahrer auf ihren Großschlitten, ganz ohne Lenkhilfen und Bremsen, sichern hundertfache Zuschauerzahlen. Doch woher kommt diese ausgefallene Faschingsgaudi? Und wozu dienten die Schalengga eigentlich ursprünglich? Franz Keller konnte uns mit seinen 80 Jahren an Erfahrung weiterhelfen und wir ließen ihn ein wenig in der Vergangenheit schwelgen.

Die tiefen Wurzeln eines Schlittens

Vor allem die älteren Bewohner Kappels verbinden mit dem massiven Schlitten eher gefährliche Arbeit, die mit Fasching eigentlich nichts mehr zu tun hat. Früher dienten die Schalengga nämlich zum Transport von Bergheu und Brennholz aus dem Berg ins Tal. Zuvor wurde es von den Bauern im Sommer geschnitten oder gesägt, anschließend getrocknet und gelagert, damit man die wertvollen und für den Winter lebensnotwendigen Rohstoffe auf schnellstem Wege nach unten bringen konnte. Natürlich war die Fahrt nicht ungefährlich und der eine Winter schon mal schneereicher und kälter als der andere, aber da die Pfade für Maultiere zu steil waren, blieb der Schalengga die einzig schnellste Lösung. „Wir schafften am Tag etwa drei bis vier Runden der 1.000 Meter langen Steigung und mussten die schwere Last bei unbeständigem Wetter schon mal etappenweise hinunterfahren. Die körperliche Anstrengung war deswegen natürlich hoch“, erinnert sich Franz Keller, der mit 15 Jahren das erste Mal mitschalenggen durfte. Auf unsere Frage, ob es noch weitere Fotos gäbe, die er uns während des Gespräches immer wieder zeigt, muss er schmunzeln: „Hätte ich gewusst, dass das Schalenggenfahren oder anderes aus dem Dorfleben, das es heute nicht mehr gibt, jetzt eine Rarität ist und die Leute heute so sehr interessiert, hätte ich natürlich mehr fotografiert.“

Dennoch gräbt der Historiker in seinen Ordnern und Schränken, um uns das Stück eines Marmorfindlings in der Nähe Pfrontens gefunden, zu zeigen oder er offenbart uns das einzige, natürlich selbstgeschossene Foto, das den Hinweis auf einen Moränenhügel gibt und von interessierten Geologen nachbearbeitet wurde. Je mehr wir erfuhren, umso mehr erhellten sich seine ergrauten Gesichtszüge, während er uns freudenstrahlend von früher erzählte. Schließlich betrieb Franz Keller auch noch Ahnenforschung, worauf sich herausstellte, dass er verwandt mit Joseph Keller ist. Ein Kappeler Kirchenmaler des Spätbarocks, Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Der Pensionär folgte des Malers Spuren von Pfronten über das Tannheimer Tal bis in die Schweiz und dokumentierte fleißig die Wand- und Deckengemälde, die in einem Fachbuch für Kunstgeschichte namens „Herbst des Barocks“ von Professor Andreas Tacke zu bestaunen sind.
Die Zeit verging immer schneller und wir schweiften mit Bravour von der eigentlich Thematik ab. Nämlich wie das Schallenggenfahren sich nach so vielen Jahren zu einer Faschingsveranstaltung entwickeln konnte?

Wie es weiterging

Ab den Siebziger Jahren wurden Fahrwege breit genug für Traktoren errichtet, weswegen die Schalenggen zunächst keine Verwendung mehr haben sollten. Doch nach einem flüssigen Stammtischabend, 1976 in der „Käsküche“, kamen eine handvoll Männer, darunter auch Franz Keller, auf die Idee, daraus ein Spaßrennen zu machen und testeten die alte Bahn am nächsten Morgen mit ersichtlich viel Gaudi und ohne der mühseligen Last im Gepäck, aus. Im darauffolgenden Jahr, an einem Faschingsdienstag, war es dann soweit: das „1. Allgäuer Schalengg´e Rennen“ in Pfronten-Kappel, mit über 70 Teilnehmern und zahlreichen Schaulustigen hatte seine Premiere. In den nächsten Jahren stiegen die Zahlen der Fahrer und Besucher rasant an und eine bessere Organisation und Planung war nötig, weshalb 1982 ein Verein gegründet wurde, der bis heute existiert und in dem Franz Keller langjähriger Rennleiter war.

Das Schalenggenrennen ist auch heute noch ein wichtiger Teil Kappels, aber als wir die ganzen Fotos des Pensionärs sehen dürfen, die teilweise bis vor Ausbruch  des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden, belastet uns noch eine Frage: Was hat sich groß verändert im Vergleich zu früher? „Vor vielen Jahren stand hier mal ein kleines Freibad, das von den Anwohnern „Eisbärenbad“ getauft wurde, Turngeräte für die lokalen Sportvereine; wir hatten viele Musiker, einen Chor, Kirchenabende, ein Skilift, 33 Milchlieferanten und eine eigene Bahnstation für den Zug. Wir funktionierten als gegenseitige Selbstversorger. Was ich aber wirklich bemängele ist, dass heute zwischen den Bewohnern alles ein wenig isolierter ist, man sieht sie teilweise Monate nicht. Die Menschen wollen ihre Ruhe und sind nicht mehr so kontaktfreudig oder neugierig wie es früher typisch war. Wie damals, als man beim Bäcker oder auch bloß auf dem Weg in die Arbeit schnell Jemanden traf, zusammen kam und sich in ein Gespräch verwickeln ließ“, erzählt der Kappeler.

Nichtsdestotrotz war für Franz Keller das bald wieder stattfindende Rennen schon immer ein großes „Miteinand“ und ein Dia- beziehungsweise Filmeabend mit alten Aufzeichnungen steht auch schon in Planung, weswegen das Dorfleben auch in Kappel so schnell nicht aussterben dürfte.

Text: Felix Schmid ·
Bilder: Franz Keller, Sabina Riegger

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