Menschen

Die Kinder der ersten Gastarbeiter

Arbeiten für ein besseres Leben

Füssen.    Bayern und Italien verbinden nicht nur die Kultur und die Handelsstraße  Via Claudia, sondern auch ein Vertrag, der vor 50 Jahren geschlossen wurde. Er regelte die massenhafte und organisierte Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften. Möglich gemacht hatte dies das erste Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien. Viele Italiener, ob nun aus Nord- oder Süditalien, haben sich in der Lechstadt angesiedelt. Die einen früher, andere wiederum später. Sie haben eines gemeinsam: Sie wollten Geld verdienen, um zu Hause ein gutes Leben führen zu können. Dabei vernachlässigten sie sich selbst, ihre Gesundheit und die Familie.  

Debora Bozzon lebt als Gastarbeiterkind der zweiten Generation in der Lechstadt. Ihre Eltern kamen Ende der 60er Jahre nach Deutschland. Seit fast 30 Jahren besitzen sie die Eisdiele Dolomiti in der Füssener Reichenstraße. Seit ihrem 14. Lebensjahr arbeitet Debora Bozzon in der Eisdiele ihrer Eltern. Sie war es gewohnt, ihre Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen. Erst kommen das Geschäft und die Kunden, dann vielleicht sie selbst. Doch seit ihr kleiner Sohn Luca auf der Welt ist, gibt es für Debora Bozzon mehr, viel mehr als nur die Wünsche ihrer Gäste. Sie möchte erleben, wie ihr kleiner Sohn aufwächst und welche Fortschritte er macht. Ihre Mutter bekam nie richtig mit, wie es ihr und ihrem Bruder ging. „Sie hat immer viel gearbeitet, irgendwie war das zu der Zeit ganz selbstverständlich“, erzählt die junge Mutter.

„Seit ich meine kleine Familie habe, bin ich zufrieden und sehe vieles anders als zuvor. Von Füssen kannte ich nur die Reichenstraße und unsere Wohnung. Es blieb mir nicht viel Zeit, die Umgebung zu erkunden.“ Als sie noch ein Kind war und ihre Eltern in Deutschland besuchte, hatten sie kaum Zeit für sie. Es waren die Freundinnen, die sie mit zum Baden nahmen, so wie Irene Pfanzelt. „Ich bin in einem Kloster aufgewachsen. Meine Lehrerinnen waren Nonnen. Es war eine strenge Schule“, erinnert sich die junge Frau. Einen Tag in der Woche, es war ein Sonntag, durfte sie bei ihrem Großvater verbringen. „Ich packte meinen Koffer eigentlich nie aus, weil ich ständig unterwegs war. Mal im Kloster, dann bei meinem Großvater und immer zwischendurch bei meinen Eltern.“ Ihr Ruhepol war ihr Pferd. Das war für sie immer da. „Als Kind verstand ich es nicht, warum ich nicht immer bei meinen Eltern sein konnte“, erinnert sich Debora Bozzon. Lange Zeit hatte sie das Gefühl, etwas vermisst zu haben. „Ich denke es war die Familie, die mir so gefehlt hat. Dieses Problem werden viele von uns Gastarbeiterkindern der ersten Generation haben. Unsere Eltern haben viel gearbeitet, weil sie uns ein besseres Leben bieten wollten. Erreicht haben sie, dass wir unter Einsamkeit und Sehnsucht litten“, erklärt die 34-jährige.

Wurzeln in Italien,in Füssen daheim

Als Ausländerin fühlt sich Debora Bozzon nicht. Allerdings auch nicht als Deutsche. „Ich bin zwar in Twistingen geboren, aber meine Wurzeln sind in Italien. Obwohl wir nur fünf Stunden von meinem Heimatort entfernt sind, ist das Lebensgefühl dort ganz anders als hier.“ In Füssen fühlt sie sich pudelwohl. „Ich liebe Füssen, vor allem die bunten Fassaden der Häuser. Es ist einfach schön. Füssen ist romantisch. Ich entdecke nach so vielen Jahren immer noch wunderschöne Plätze.“ Die Seen rund um Füssen faszinieren Debora Bozzon sehr. Eine „Wasserratte“ wird sie allerdings nie werden. „Wenn ich nicht auf den Grund blicken kann, dann kann ich auch nicht baden gehen“, begründet sie ihre Angst vor dem Wasser.

Heute verbringen Debora Bozzon und ihre Mutter viel Zeit miteinander. „Wir können die verlorenen Jahre nicht mehr nachholen, aber ich bin froh, jetzt in ihrer Nähe zu sein. Es bringt mir sehr viel,  dass wir gemeinsam arbeiten. Sie fragt mich um Rat und wir entscheiden zusammen. Das ist schön.“ Ihr Sohn Luca wächst zweisprachig auf. „Er wird nicht dieses Problem der Zerrissenheit haben“, ist sich Debora Bozzon sicher. Die Fröhlichkeit und das italienische Temperament hat die junge Frau nicht verloren. „Warum auch. Manche Dinge sind so wie sie sind. Und wir sollten das Beste daraus machen. Ich habe meinen Mann hier in Füssen kennen gelernt, wir haben unseren Luca. Das ist Glück und dafür bin ich dankbar.“ Ob Geld für sie wichtig ist, beantwortet sie nachdenklich: „Wer sagt, dass Geld nicht wichtig ist, der lügt sich selber an. Jeder von uns braucht Geld. Ohne geht fast gar nichts. Wenn man mich fragt, ob ich Luxus brauche, dann kann ich es mit Nein beantworten.“
Text · Bild: rie

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