Kolumne

Nana

Da meine Oma noch sehr jung war, als sie meine Mama zur Welt brachte, waren ihre Freunde zum Teil auch noch jung. Oder zumindest jung geblieben. Oder anders herum gesagt: die anderen fingen viel später an, Eltern zu werden und Familien zu gründen, als sie es tat. Jedenfalls hatte ich meistens jemanden zum Spielen, wenn wir bei ihren Freunden zu Besuch waren.

An den Wochenenden wollte ich oft zu meiner Oma. Ich war gerne bei ihr. Und die Tage dort liefen eigentlich immer gleich ab: Früh aufstehen. Sehr früh. So früh, dass es gegen elf Uhr vormittags schon Zeit fürs Mittagessen war.  Zuvor aber war der Besuch einer nahegelegenen Kapelle Pflicht. Meine Oma, auf Bosnisch Nana, eine sehr gläubige Frau, empfand es als ihre Pflicht mich zur Mariensäule am Waldrand zu schleppen.

Dort angekommen, kniete sie sich nieder, betete auf Bosnisch das Vaterunser und beendete ihren Ritus mit den Worten: Amin. I sada Idemo na kafu, Nanina kćerka. Was so viel bedeutet wie: Amen. Und jetzt lass uns Kaffeetrinken gehen, mein Liebling. Wobei das nur sinngemäß übersetzt ist. „Nanin kćerka“ bedeutet wörtlich übersetzt nämlich: „Omas Tochter“. Was natürlich keinen Sinn ergibt. Aber es ist mitunter eine der liebevollsten Ausdrücke, die eine Großmutter ihrer Enkelin entgegenbringen kann. 

In dieser Kultur kommen Liebkosungen nie alleine. Es reicht nicht aus, „nur“ ein liebes Wort, eine liebe Phrase zu sagen. Nein, es ist normal, aus Liebkosungen das Nonplusultra zu machen und zehn Wörter aneinanderzureihen, um seine Liebe auszudrücken. Ein Beispiel: Aus „Mein Schatz“ im Deutschen wird im Bosnischen: „Mein Schatz, mein Herz, meine Seele, mein Leben, meine Sonne, mein Alles“. Und ich kann sagen, sowas wird anscheinend vererbt. Von Generation zu Generation.

Naja, jedenfalls wurden die Tage nach dem Beten spannender für mich. Nana und ich waren wenig zu Hause. Entweder waren wir in irgendeinem Bus auf dem Weg in irgendeine Stadt, oder bei Witt Weiden, wo ich früh gesagt bekam, was Miederhosen aus Polyester für Frauen ab 40 bewirken können. Wenn wir also keine Unterwäsche für sie aussuchten, dann waren wir schwimmen in irgendeinem Café, da Kaffeetrinken der Nationalsport meiner Großmutter war und ist, oder aber, wir waren bei ihren Freunden zu Besuch.

An ihre Freunde erinnere ich mich sehr gut. So gut, als wären wir erst gestern dort gewesen. Gleich ums Eck wohnte eine aramäische Familie. Dort gab es Kaffee en masse, Essen en masse und Tratsch en masse. Der Sohn der Familie war der erste Monk, der mir damals in meinem bis dato noch jungen Leben über den Weg lief. Und das meine ich liebevoll. Obwohl wir gleichaltrig waren, kamen wir wenig zum Spielen. Ihm war es wichtiger, die Teppichfransen gerade zu rücken, als irgendetwas zu spielen. Ich verstand ihn. Und ich hatte auch nichts dagegen. 

Einige Stationen mit dem Bus entfernt wohnten andere Freunde. Ein Ehepaar aus dem früheren Jugoslawien mit seinen zwei Töchtern, die übrigens kein Interesse an Teppichfransen, dafür aber an Popstars, Boybands und Girlgroups hatten. Mit einer Haarbürste in der Hand, die das Mikrofon ersetzte, sangen und choreografierten sie vor den Spiegeltüren ihres Einbauschranks im Kinderzimmer, als ginge es um alles oder nichts. Langweilig wurde mir bei ihnen nie. Auch hier war es dasselbe. Es gab Essen en masse, Kaffee en masse, ein lautes Radio im Hintergrund, Tratsch, Gelächter und gesprochen wurde mit Händen und Füßen, nur nie leise.

Ich denke gerne an die Nachmittage dort zurück. Die Sprache unter Ihnen war oft rau, aber liebevoll. Wir Kinder standen immer im Mittelpunkt des Geschehens und hatten den höchsten Stellenwert. Manche Dinge ändern sich mit der Zeit. Andere wiederum nicht. Prioritäten aber bleiben, obwohl sich das Drumherum ändert. Heute bin ich 36 und meine Oma ist 77.  Wenn sie könnte, würde sie mir immer noch die Haare flechten und meinen Kopf mit ihrem Multivitamin-Shampoo aus der Werbung einschäumen, auf das sie seit jeher schwört. Sie bringt mir Sachen mit und tröstet mich noch heute wie das kleine Mädchen von früher. Natürlich noch mit denselben Worten: „Neda Nana tebe“. Damit sagt sie: „Sie passt auf mich auf, gibt mich nicht her, hält mich.” Alles ein bisschen melodramatisch, ich weiß. Und von allem immer das gefühlte Maximum.

Maximale Koffeinzufuhr, maximale Anzahl an täglichen Anrufen und ein maximales Bedürfnis, sich auszutauschen, 24/7. Vorhin habe ich eine alte Postkarte von ihr gefunden. Eine Ansichtskarte aus Mallorca. Sie schreibt, wie schön das Wetter sei, dass ihre Clique und sie den Tag über am Meer verbringen und abends ausgehen. Sie schreibt auf Bosnisch, sie schreibt mit Rechtschreibfehlern. Aber sie schreibt. Sie hat es sich damals selbst beibringen müssen. 

Meine Oma, eine Frau, die aus einer anderen Welt kam, um hier eine bessere zu finden. Schichtarbeit, Fließband, Putzkübel. Eine Frau im Stadtbild. „Die“ Frau im Stadtbild. Und dafür bin ich hochachtungsvoll dankbar. Und nicht nur ich…

Kad Nana kaže bit će sve okej, onda će biti sve okej!
(Wenn Oma sagt, es wird alles gut, dann wird auch alles gut!)

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