
Erst lesen, dann hören
Würde man mich fragen, welches für mich das höchste oder sagen wir das wichtigste und gleichermaßen bedeutendste Gefühl ist, dann würde ich wahrscheinlich das Gefühl der Vollkommenheit nennen. Heute ist einer dieser Tage, an denen ich wieder spüren kann, wie es sich anfühlt. Je älter ich werde, desto intensiver kann und darf ich es fühlen.
Älter werden- das klingt irgendwie erhaben, vielleicht sogar wehmütig. Aber für mich ist es das nicht. Ich bin nicht wehmütig, ich bin glücklich und dankbar. Gerade bin ich 36 geworden und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen- so wie es ist, und das, was die Jahre mit und aus mit gemacht haben. Ja, es gibt trotzdem Umstände, die ich mir anders wünschen würde. Aber vielleicht soll alles genau so sein? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es auch nur die einfachste oder sagen wir die naheliegendste Erklärung, Entschuldigung oder Rechtfertigung für das, was ist. Für das, was sich und was ich nicht ändern kann oder sich nicht ändern lässt.
Vermeintlich jedenfalls.
Mit jedem Jahr lerne ich mich besser kennen, noch besser als ohnehin schon. Ich würde behaupten, mich sehr gut zu kennen, weil ich gelernt habe, mich mit mir selbst auseinander zu setzen. Und was sich vielleicht so selbstverständlich und leicht anhört, ist es in Wahrheit nicht. Jedenfalls nicht dann, wenn es wirklich darum geht, auf sich zu hören, auf sich zu achten, sich zu hinterfragen, Bedürfnisse zu filtern und vor allem auch für sich einzustehen.
Und das sage ich ganz bewusst auch als Frau. In einer Welt, in der das Narrativ der Frau von zehrend hohen Erwartungen geprägt ist.
Mit achtzehn dachte ich, das Leben verstanden und gänzlich kennengelernt zu haben. Obwohl ich irgendwo feststeckte, zwischen dem Gefühl der Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Abenteuerlust und Versagensängsten, zwischen Selbstzweifeln und Träumen. Ich wollte der Welt zeigen, wer ich war, ich wollte mich beweisen, mich festigen und gesehen werden.
Und heute? Heute fühle ich mich vollkommen. Ein Gefühl, das so kostbar ist, wie es klingt. Vollkommenheit bedeutet für mich weder Perfektion noch Vollendung. Für mich bedeutet es zu wissen, wer ich bin. Es bedeutet, mir selbst vertrauen zu können.
An dieser Stelle wünschte ich mir, es gäbe die Möglichkeit, sich diese Zeilen vorlesen lassen zu können. Im Hintergrund würde man leise einen meiner Lieblingssongs von America hören können. Wie auch ich ihn gerade höre:
„On the first part of the journey
I was looking at all the life
There were plants and birds and rocks and things
There was sand and hills and rings
The first thing I met was a fly with a buzz
And the sky with no clouds
The heat was hot, and the ground was dry
But the air was full of sound
I‘ve been through the desert
On a horse with no name
It felt good to be out of the rain
In the desert, you can remember your name
‚Cause there ain‘t no one for to give you no pain
La, la, la, la, la, la
La, la, la, la, la, la
La, la, la, la, la, la
La, la, la, la, la, la“
A horse with no name.



