Kolumne

Nicht glauben, was andere denken

Warm eingepackt stehe ich draußen in der Kälte und warte auf den Jahreswechsel. Heute ist Silvester- der letzte Tag des Jahres ist in wenigen Augenblicken zu Ende.

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„Zehn, neun, acht…“

Alle zählen glücklich den Countdown runter. 

Überall pfeift und knallt es schon. 

Aber ich bin nicht glücklich. Und ich zähle auch keinen Countdown runter. Dafür halte ich mich an dem kalten Laternenmast neben mir fest und schließe meine Augen. Denn ich weiß, was gleich kommen wird. Am liebsten würde ich den Countdown abbrechen und alles und jeden aufhalten. Aber ich kann nicht. Die Angst sitzt mir in den Knochen. 

Und das alles nur, weil ich neulich nachts bei meiner Oma den Fernseher einschaltete. Sie schlief längst. Aber ich war noch immer hellwach. Ich witterte meine Chance und nutzte sie. Heimlich schlich ich mich auf das Sofa vor dem dunkelgrauen Röhrenfernseher und schaltete ihn schamlos ein. Ich wollte eine Mitternachtsparty mit Süßkram und „Ups, die Pannenshow“.

Was ich bekam? Einen mir unbekannten Sender samt hysterischer Leute, die aufgebracht Richtung Kamera gestikulierten, als wären sie wirbellos. Sie faselten etwas von Zeichen und Prophezeiung und zeigten dabei ihre selbst errichteten Schutzbunker, ihre Konserven und Kanister, Messer, Sandsäcke, Gaskartuschen und Stirnlampen.

Mit sicherer Stimme und fokussiertem Blick sprach ein Mann in Tarnkleidung direkt in die Kamera. Was er sagte, fühlte sich weniger nach einer Drohung, als nach einem Versprechen an. Er hob seinen  Zeigefinger und prophezeite, dass in wenigen Tagen die größte aller Katastrophen eintreten werde. Nämlich in der Nacht vom 31.12. 1999 auf den 1.1.2000: Denn dann werde die Welt untergehen. Vermutlich schaltete ich noch nie so schnell wieder aus und ließ die Süßigkeiten unbeachtet wie in dieser Nacht… 

Inzwischen spüre ich meine Backe kaum mehr. Der Mast ist so kalt. Aber ich will und kann nicht loslassen. Alles Mögliche geht mir durch den Kopf. Horror-Szenarien in allen Ausführungen machen mir übles Kopfkino. Aber schnell wird mir klar, was das  Schlimmste an all dem hier ist: offenbar scheint es außer mir sonst niemand zu interessieren, was gleich zum Jahreswechsel passieren wird. 

Mit meinen zehn Jahren frage ich mich ernsthaft, ob womöglich alle um mich herum längst den Verstand verloren haben könnten?  Was geht hier ab? Warum lachen und feiern denn alle? Warum höre ich Lou Bega singen? Warum hält sich niemand fest?  Was soll das hier?!

Meine Mutter umklammert mich, der Himmel leuchtet bunt, alle liegen sich in den Armen. Es ist 0.00 Uhr, der erste Januar 2000. 

Und wir stehen alle noch da …

Es gibt ein Arabisches Sprichwort, das besagt:

„Die meisten Menschen vermasseln etwas Gutes, indem sie nach etwas Besserem suchen, nur um am Ende etwas Schlechteres zu bekommen.”

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