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Nachgefragt! bei Prof. Dr. Kerstin Sailer

die seit rund 15 Jahren in der britischen Hauptstadt London lebt.

Seit dem Jahresbeginn ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Bereits im Juni 2016 hatten die Briten bei einem Referendum mit rund 52 Prozent der Stimmen für den Brexit, den Austritt aus der Europäischen Union, gestimmt. Die Folgen des Brexit machen sich in den verschiedensten Bereichen bemerkbar. Nicht nur, dass die Einreiseregeln strenger geworden sind oder dass sich viele Gebühren wie Zölle erhöht haben. Weil LKW-Fahrer fehlen, die die Waren im ganzen Land verteilen, stehen die Menschen in vielen Supermärkten vor zum Teil leeren Regalen, oder auch an den leeren Zapfsäulen der Tankstellen. Die gebürtige Füssenerin Prof. Dr. Kerstin Sailer lebt seit rund 15 Jahren in der britischen Hauptstadt, wo sie wissenschaftlich tätig ist. Als Professorin und Dozentin lehrt und forscht sie am University College London. Darüber, wie der Brexit das Leben im Königreich verändert hat, haben wir sie befragt.

Frau Sailer, wie sieht man heute diesen EU-Austritt in England. Was sagen die Menschen, mit denen Sie zusammen sind, zu diesem Thema?
Diese Brexit-Abstimmung, oder das was dabei letztendlich heraus gekommen ist, war ein Riesen-Schock, das hat niemand erwartet. Es dachten alle, das wird knapp, aber es wird schon gut gehen. In meinem Bekannten- und Freundeskreis war keiner für den Brexit, ich kenne auch niemanden, der dafür war. Zermürbend waren auch die gut drei Jahre, in denen es dann hin und her ging. Als es dann durch war, kam die Frage auf, ob wir bleiben oder gehen. Wir haben uns dann aber doch entschieden, hier zu bleiben. Ich bin Optimistin und habe die Vorstellung und Hoffnung, dass das irgendwann wieder rückgängig gemacht wird.

Wie hat sich das Leben in England oder in London durch den Brexit verändert?
Nach dem Vollzug des Brexit ging das Leben erst mal ganz normal weiter. Der Stichtag hat sich ja immer wieder verschoben. Dann kam die Pandemie, die England in der vollen Breitseite getroffen und sowieso das ganze Leben auf den Kopf gestellt hat. Den Effekt des Brexit hat also anfangs keiner so richtig gemerkt. In der Zeitung war mal zu lesen, dass London durch den Ausstieg wohl eine Million Einwohner verloren hat. Menschen aus anderen europäischen Ländern, die hier gearbeitet haben, ob als LKW-Fahrer, Erntehelfer oder Krankenschwestern. Im direkten Alltag hat sich aber auch nicht wirklich viel verändert. Die langen Schlangen vor den Tankstellen sind sicher mit der größte Brexit-Effekt. Als gute Londoner haben wir aber kein Auto, so dass wir das auch nicht merken. Auch leere Regale in den Supermärkten bekommen wir nicht mit. Hier bestellt man die meisten Dinge und auch Lebensmittel bereits online, die dann nach Hause geliefert werden. Die Digitalisierung ist hier in England sowieso schon um einiges mehr fortgeschritten, als in Deutschland.

Wo fehlt es denn im Alltag am meisten?
Wir reden jetzt wirklich über Luxusprobleme. Durch die gestiegenen Gaspreise haben zwei große Laborunternehmen hier ihre Produktion von Trockeneis eingestellt. Die Firma, die unsere Lebensmittel liefert, kann dadurch jetzt keine Tiefkühlwaren mehr liefern. Jetzt gibt es ein paar Wochen wohl keine Tiefkühlerbsen. Gewarnt wird jetzt auch schon vor einer Knappheit von Spielzeug oder Truthähnen.

Ist irgendetwas durch den Brexit extrem teuer geworden?
Nicht wirklich. Allerdings hat generell die Armut hier in Großbritannien unter dieser sehr konservativen Regierung erheblich zugenommen. Auch, dass viele Menschen hier auf solche Einrichtungen wie die Tafel angewiesen sind. Und die Mieten sind hier sehr hoch, aber das war schon vor dem Brexit so.

Vielen Dank und herzliche Grüße nach London!
Danke ebenso und liebe Grüße in die Heimat nach Füssen

Text: Das Gespräch führte Lars Peter Schwarz · Foto: Elaine Perks

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