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Das Virus erkennen

Sogenannte „Symptom Tracker“-Apps, in denen Erkrankte und Gesunde täglich ihren Gesundheitszustand angeben, können den Gesundheitsbehörden bei der Eindämmung der COVID-19-Pandemie helfen.

Eine solche App entwickelte Priv.-Doz. Dr.-Ing. Dr. med. Martin Zens, der am Krankenhaus in Füssen praktiziert, gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Freiburg, um eine bessere Diagnostik zur Bekämpfung von COVID-19 zu ermöglichen. Die erste Version wurde am 8. April 2020 für Apple iOS und am 20. April 2020 für Google Android veröffentlicht. Innerhalb von fünf Wochen wurde die App 22.327 Mal heruntergeladen. Letzten Monat wurde die Studie beendet.

Der tägliche Symptomfragebogen forderte Informationen zu bekannten oder vorgeschlagenen Symptomen. In einem ersten Fragebogen wurden demografische Informationen wie Alter, Geschlecht und Postleitzahl und die Krankengeschichte mit relevanten chronischen Krankheiten abgefragt. Die Teilnehmer wurden täglich mit Push-Benachrichtigungen daran erinnert zu melden, ob bei ihnen Symptome aufgetreten sind, und ob sie auf SARS-CoV-2 getestet wurden.

Zusätzlich wurde bei der Häufigkeit gleicher Symptome nach weiteren Details gefragt wie z. B. Fieber, Husten, Temperatur oder Auswurf. „Wenn Benutzer professionellen Rat im Gesundheitswesen suchten wie z. B. im Krankenhaus, einer Privatpraxis , wurden zusätzliche Fragen zur Diagnose und Behandlung gestellt“, erzählt PD Dr. Dr. Martin Zens. Die Teilnahme stand allen Erwachsenen offen und war anonym.

Im September veröffentlichte Martin Zens gemeinsam mit Arne Brammertz, Juliane Herpich, Norbert Südkamp und Dr. Martin Hinterseer im Journal of Medical Internet Research ihre Studie. Füssen aktuell sprach mit dem Studienleiter über die Ergebnisse der Studie, die große Beachtung fand.

Dr. Zens, wie aussagekräftig waren die Daten, die Sie gesammelt haben?
Anhand der Daten konnten wir Ergebnisse einer britischen Arbeitsgruppe auch für den deutschsprachigen Raum bestätigen. Insbesondere die Identifikation von Geruchs- und Geschmacksverlust als Kardinalsymptom mit hoher Unterscheidungskraft konnte durch unsere Studie herausgearbeitet werden. Weiterhin zeigte sich zu unserer Überraschung, dass Durchfall und Erbrechen – anders als zuvor angenommen – bei vielen COVID-19 Patienten zu beobachten ist.

Ist es möglich, anhand der gemeldeten Symptome das Ausbruchsgeschehen in bestimmten Regionen vorwegzunehmen?
Prinzipiell ja, wobei wir uns nicht an den Symptomen, sondern an den gemeldeten positiven Testergebnissen orientieren.

Wie kann man diese Fülle an Symptomen, die COVID-19 mit sich bringt, tatsächlich auch dieser Erkrankung zuschreiben oder anders gefragt, ab wann spricht man von einem Symptom, das einer Covid-19-Erkrankung zuzuordnen ist?
Man spricht von Symptomen, die dem COVID-19 Erreger zuzuordnen sind, wenn ein positives Testergebnis vorliegt. Selbstverständlich sind auch hier Superinfektionen oder andere Ursachen möglich. Wir neigen dazu, alle Symptome dem COVID-19-Erreger zuzuschreiben. Sicherlich kann ein Migränepatient auch Kopfschmerzen aufweisen, die trotz positivem Testergebnis nicht in einem Zusammenhang mit COVID-19 stehen. Allerdings gibt es Symptome, wie beispielsweise Geruchs- und Geschmacksverlust, die lediglich bei sehr wenigen und seltenen Erkrankungen auftreten. In der aktuellen Situation einer Pandemie konnte unsere Studie zeigen, dass ein Geruchs- und Geschmacksverlust mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit durch eine COVID-19-Infektion bedingt ist.

Forschende der Medizinschen Universität Wien haben eine lange Liste der Corona-Anzeichen strukturiert. Dabei ist herausgekommen, dass es sieben unterschiedliche Erkrankungsformen bei mildem COVID-19-Verlauf gibt. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Allergy veröffentlicht. Da sind Symptome wie
· Grippale Symptome mit Fieber, Schüttelfrost, Müdigkeit, Husten
· Schnupfensymptome: Schnupfen, Niesen, trockenem Hals und Verstopfung der Nase
· Gelenk- und Muskelschmerzen
· Augen- und Schleimhautentzündungen
· Lungenprobleme (mit Lungenentzündung und Kurzatmigkeit)
· Magen-Darm-Problemen (Durchfall, Übelkeit und Kopfweh)
·
Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns
Da ist alles dabei. Wie soll ein Arzt unterscheiden können, ob es Corona ist oder etwas ganz anderes?

Genau diese Tatsache stellt eine der größten Herausforderungen der COVID-19-Pandemie dar. Es handelt sich um eine Erkrankung des ganzen Körpers die sich von Mensch-zu-Mensch vollkommen unterschiedlich äußern kann. Die Kunst der Hausärzte und von Ärzten in Notaufnahmen liegt darin, schnell zwischen COVID-19 und möglichen anderen Ursachen zu unterscheiden. Momentan gilt häufig die Vorgehensweise, dass bis zum Beweis des Gegenteils von einer COVID-19-Infektion ausgegangen werden muss. In unserer Studie ist es zudem gelungen, die Häufigkeit von Symptomen und Kardinalsymptome zu identifizieren. Es zeigte sich zum Beispiel, dass, je mehr Symptome gleichzeitig bestehen, desto wahrscheinlich ist eine COVID-19-Infektion. Außerdem zeigte sich, dass Geruchs- und Geschmacksverlust ein gutes Unterscheidungskriterium ist und dass beispielsweise Durchfall und Erbrechen häufiger auftreten, als beispielsweise Halsschmerzen, wie zu Beginn der Pandemie angenommen.

Nach Ihren Daten sind Diabetes und chronische Herzerkrankungen die wichtigsten Risikofaktoren für einen symptomatischen Verlauf der COVID-19-Infektion.
Warum liegt hier die Wahrscheinlichkeit höher?

Die Mechanismen hinter diesem Phänomen sind bisher leider ungeklärt. In den kommenden Jahren wird es sicherlich noch viele spannende Forschungsarbeiten zu diesen Themen geben. Unsere Studie zeigte eindeutig, dass Diabetespatienten mehr Symptome aufweisen und seltener einen asymptomatischen Verlauf haben, wenn eine COVID-19-Infektion vorliegt. Momentan befinden wir uns weiterhin in einer Phase der Beobachtung und Dokumentation. Erklärungen erfordern weitergehende Forschung.

Sind Symptom-Tracker-Apps die Zukunft des Gesundheitswesens?
Die derzeitige Pandemie zeigt, wie komplex Krankheitsgeschehen, Ausbreitungen, Ansteckungen und Behandlungen sein können. Gesundheits-Apps ersetzen sicherlich keinen Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir die technischen Möglichkeiten in allen Lebensbereichen nutzen sollten, um unsere persönliche Gesundheit, und die gesellschaftliche Gesundheit zu verbessern. Nehmen wir die jährliche Grippe als Beispiel: Ich hoffe, dass die gesellschaftlichen Erkenntnisse der COVID-19-Pandemie dazu beitragen, in den kommenden Jahren auch mit der saisonalen Grippe anders umzugehen. Sollten Warn-Apps nur ein paar Prozent der Infektionen verhindern, so halte ich dies für einen gesamtgesellschaftlichen Erfolg.

Zur Person:

Herr Priv.-Doz. Dr. med. Dr.-Ing. Martin Zens (36) ist seit Juli 2019 am Klinikum Füssen beschäftigt und wird in wenigen Wochen den Facharzt für Innere Medizin abschließen. Herr PD Dr. Dr. Zens hat im Erststudium Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe (heute: KIT) mit den Schwerpunkten Biomedizinische Messtechnik und Mikrosystemtechnik studiert. In seiner Diplomarbeit beschäftigte Herr Dr. Zens sich mit der Entwicklung eines implantierbaren Blutdrucksensors. Es folgte ein Zweitstudium der Humanmedizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit Auslandsaufenthalten am University College London, der Medizinischen Universität Innsbruck und der James Cook University in Queensland, Australien. Herr PD Dr. Dr. Zens ist promoviert in Medizin und Ingenieurswissenschaften und erlangte 2020 die Lehrbefugnis der Universität Freiburg.
Zudem war Herr PD Dr. Dr. Zens von 2002 bis 2013 selbstständig als Gründer und Geschäftsführer im Bereich webbasierter Softwareentwicklung und Geschäftsprozessoptimierung tätig. Heute zählt eHealth und mHealth zu den Schwerpunkten der Forschung und Lehre von Herrn Zens.

Text· Interview: Sabina Riegger · Foto: privat

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