Kolumne

Quality Time

Mein Mann und die Kinder schlafen. Ich sehe ihnen dabei zu – sie sind wunderschön. Sie liegen einfach da, ganz friedlich und ruhig. Ich bin glücklich.

Es ist noch früh, zu früh: Erst sechs Uhr morgens. Ich schiebe den Vorhang leicht zur Seite – der Himmel ist wolkenlos blau. Es ist ein bisschen so, als würde gerade die Zeit still stehen. So jedenfalls fühlt es sich an. Ich genieße den Moment und die Ruhe und denke nach. Ich denke an eines meiner vielen, heißgeliebten Ratgeberbücher.

Darin geht es um Quality Time. Wie man das Beste aus dem Tag raus holt und so. Konkret: Um Effizienz. Wie nutzt Du die 24 Stunden am besten? Das ist die Kernfrage des Buchs. Auf Seite 32 gibt‘s dann die – wie ich finde – unsympathische Antwort: Früh aufstehen. Mindestens eine Stunde früher als man es normalerweise würde.

Es ist 06.05 Uhr morgens und ich bin hellwach. Eigentlich finde ich das nicht gut. Aber wenn ich so überlege, wegen Effizienz und so, dann ist das doch gut. Richtig gut. Weil das jetzt eine ganze Stunde plus für mein Quality-Time-Konto bedeutet. Bääm. Das klingt doch nach Schulterklopfen – ich mag das.

Knapp 60 Minuten bleiben mir also noch für die Ruhe vor dem Sturm. Effizient und stressfrei durch den Morgen ist das Mantra. „Widme Dich Deinen Wünschen und Deinen To-Do‘s, für die Du sonst keine Zeit findest!“, schreibt der Autor.

Gut. Also, mal sehen. To-Do‘s hätte ich ein paar. Aber nichts großes. Nur sowas wie: Keller ausmisten, Garage aufräumen, Fenster putzen, Unterlagen sortieren und schreddern, oder Autopolster reinigen. Puh, für was soll ich mich bloß entscheiden?

Jetzt weiß ich‘s: Für nix.

Aber vielleicht kann ich mir ja in den 60 Minuten einen Wunsch erfüllen. Ja, vielleicht das mit dem Arabisch sprechen können?! Oder den Camino Francés, den Jakobsweg gehen. Meine Familie und ich schweigend zu Fuß durch Spanien. Olé! Aber dafür bin ich wahrscheinlich nicht früh genug aufgestanden. Genau wie für die Weltreise mit dem Auto oder dem South by Southwest Festival in Austin, Texas. Pah, von wegen der frühe Vogel fängt den Wurm. Um wieviel Uhr fängt man den denn?!

Was wird dann jetzt aus meinem großen Wunsch?! Also Tine Wittler hat das früher ständig gemacht: Eine Bruchbude in ein Traumhaus zu verwandeln, und das in knackigen 45 Minuten. Mein altes Haus mit Steinwänden, Holzdielen und wildem Garten samt Gemüsebeet, Esel und Ziege können wir dann heute Morgen wohl nicht mehr beziehen – wird mit fünf Minuten zu knapp. Inzwischen ist es 06.55 Uhr.

Mein Résumé?! Ernüchternd. Um nicht beschissen zu sagen. Ab sieben Uhr erwachen meine friedlichen Geschöpfe zum wilden Leben. Dann gibt´s Halligalli und eine Schlange vor dem Waschbecken.

Apropos: Da gäbe es doch noch einen Wunsch. Die paar Minuten reichen mir: Jetzt bloß schnell raus aus dem warmen Bett und in Ruhe Zähne putzen…

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