
Die Treppe
Ich sehe mich noch sitzen, auf der weißen Marmortreppe im Gang, die Knie angezogen, der Blick durch das schwarze Treppengeländer ins offene Esszimmer gerichtet. Unten ist der Silvesterabend in vollem Gang. Lachen, Tanzen, Musik. Jemand öffnet eine Flasche Sekt, die Gläser klirren. Es war warm in unserem Haus. Es roch nach frischem Brot und Kerzen.
The Proclaimers liefen gerade:
“But I would walk five hundred miles
And I would walk five hundred more
Just to be the man who walked a thousand
Miles to fall down at your door”…
Jemand tanzte zur Musik in Richtung Gäste-WC an mir vorbei.
Alles war gut. Alles schien gut. Familien, die zusammen feierten. Eltern, Freunde und Kinder, die zwischen den Erwachsenen hin und her wuselten. Das, was ich beobachtete, war wie ein Beweis für mich, dass die Welt funktionierte. Niemand war allein. Niemand würde es je sein. Damals als Kind auf dieser Treppe dachte ich das. Es schien, als würde alles für immer so bleiben. Alle würden immer so bleiben- Zusammen.
Als wäre es ein geschriebenes Gesetz.
Viele Jahre später blicke ich zurück auf diese Silvesternacht. Viele dieser Familien gibt es nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr in der Konstellation, in der ich sie in Erinnerung behielt. Die meisten sind längst auseinander gegangen und haben neue Partner*innen, neue Familien, neue Silvesterabende.
Als in unserem Freundeskreis die erste Trennung bevorstand, war das schrecklich. Ich wollte verstehen, wie so etwas passieren kann. Wieso Menschen zusammen alleine sind, wieso Familien zerbrechen, wieso Menschen, die sich einmal liebten, sich plötzlich verletzen.
Geliebte Menschen werden schleichend zu Fremden. Jedes Mal mehr, wenn Dinge geschehen, die man für unmöglich hielt. Und Ehe man sich umsieht, wird aus einer Familie zwei.
Menschen verändern sich. Und das ist gut so. Aber manchmal ist das Leben komplizierter, als es von der Treppenstufe aus zu sein scheint, das habe ich gelernt.
Trotzdem weiß ich, dass der Moment damals auf der Treppe echt war: Die Wärme, das Lachen, die Freude– all das war wirklich da. Ja, Menschen und Familien trennen sich. Aber in dem Augenblick, in dem sie zusammen sind, können sie etwas schaffen, das bleibt: ein Gefühl von Geborgenheit. Vielleicht sogar für ein Leben lang.
Mir wurde einmal mehr klar, welch seltenes Privileg es ist, aufrichtige Liebe zu erfahren. Liebe, die bedingungslos ist. Liebe, die wächst und Kompromisse nicht scheut, Liebe, die auch Dürren übersteht und für die es keine Worte braucht, um zu verstehen. Liebe, die sich entwickeln und verändern darf, Liebe, die Zuhause sein bedeutet.
Ich habe Glück mit diesem seltenen Privileg. Deswegen halte ich es fest, so fest ich kann. Und während ich diese Zeilen schreibe, wünsche ich mir, dass auch andere diese Art von Liebe erfahren, sie finden oder wiederfinden. Dass der nächste Silvesterabend warm ist, voller Lachen und echter Momente. Momente, an die sich vielleicht ein Kind auf einer Treppe erinnern wird.



