
„Die Gegenwart ist jetzt – und das ist wichtig“
Dass Großeltern mit ihrem Enkelkind aus einem Kriegsgebiet fliehen ist nicht der Regelfall. Iryna und Andrii Potapov sind mit ihrer Enkeltochter und der Urgroßmutter nach Deutschland geflüchtet.
Dass sie einmal aus ihrem Land fliehen müssten, darüber haben sich Iryna und Andrii Potapov nie Gedanken gemacht. Warum auch? „Wir hatten es wirklich sehr gut zu Hause“, sagt Iryna, die im Büro einer Firma arbeitete, die Kleidung und Handschuhe herstellte. Zu Hause, das ist in Kiew in der Ukraine. Dort waren sie fest verwurzelt, hatten ihre Freunde, die Familie, ihr ganzes Leben.
„Als der Krieg losging, baten uns unser Sohn und unsere Schwiegertochter mit ihrem Kind nach Deutschland zu fliehen“, erzählt Andrii Potapov. Drei Monate brauchten sie Zeit, um alles in die Wege zu leiten, wichtige Dokumente mitzunehmen, Papiere ausstellen zu lassen, wie zum Beispiel eine Vollmacht, die es ihnen erlaubt, sich um ihre Enkeltochter zu kümmern und eventuelle Entscheidungen zu treffen.
„Es war keine leichte Entscheidung. Wir selbst wären in Kiew geblieben, aber es ging um unsere Enkeltochter. Familie ist wichtig, man steht zueinander und hilft sich gegenseitig. Die Frage stellte sich nicht, ob es für uns eine schwierige Aufgabe sein wird, es war wichtig das Kind in Sicherheit zu bringen“, so Iryna.
Sie nahm ihre heute 81-jährige Mutter Tamara Markova mit. „Erst wollte sie nicht. Aber wir haben schon in Kiew zusammengelebt und wir wollten sie nicht allein zurücklassen.“ Die 93-jährige Mutter und die Schwester von Andrii Potapov, der in Leipzig geboren wurde, wollten nicht mit. Die Vorstellung, in ein fremdes Land zu gehen, machte ihnen Angst.
Seitdem leben sie in Deutschland, in Bayern, in Rieden am Forggensee. Ihre kleine Enkeltochter Emma ist in die erste Klasse gekommen. „Sie war sehr aufgeregt und hatte vor der Einschulung ziemlich Angst, weil sie unsicher war. Emma wollte unbedingt, dass ihre Mama an ihrem ersten Schultag dabei ist“, erzählt Iryna. Mutter Vera kam. Sie blieb nur wenige Tage, doch lange genug, um Emma auf die Schule vorzubereiten.
„Es ist sehr schwer, von seinem Kind getrennt zu sein. Das läst sich nicht in Worte fassen. Für Emma ist es aber die bessere Option“, sagt sie. Dass sie Glück im Unglück haben, weiß Vera Potapov. „Wir sind sehr dankbar, dass meine Schwiegereltern diese große Herausforderung auf sich genommen haben.“ Gemeinsam mit ihrem Mann, der Chirurg in einem Krankenhaus ist, leben sie in Kiew und unterstützen die Menschen dort.
Wenn sie Emma besuchen kommt, dauert die Fahrt mit dem Auto bis zu zwei Tage. Wenn Sie Glück hat, beträgt die Wartezeit an der ukrainischen Grenze nur vier bis sechs Stunden. Zeit, die ihr verloren geht.
Dass der Krieg so lange dauern würde, davon sind Iryna und Andrii Potapov nicht ausgegangen. Zum Glück wie er meint, durften sie hier wunderbare Menschen kennenlernen, die ihnen sehr viel geholfen haben. „Dank dieser Freundschaften konnten wir uns gut einleben, Sie sind uns eine große Hilfe“, erzählt er. Ohne sie hätten wir es nicht so geschafft.“
Inzwischen sind mehr als zwei Jahre vergangen. Sie verstehen mehr Deutsch als dass sie es sprechen. „Es fällt uns schwer, Deutsch zu lernen, vielleicht liegt es am Alter, vielleicht an dem emotionalen Stress. Wir wissen es nicht.“ Wenn es nach Tamara Markova gehen würde, würde sie lieber heute als morgen zurück nach Hause. Dass das noch nicht möglich ist, das weiß sie.
„Wir haben es gut hier. Viele andere nicht. Es gibt nichts, worüber man sich beschweren müsste.“ Nichtsdestotrotz kommt manchmal das Heimweh, dann ist die Sehnsucht da – vielleicht nicht mehr so groß wie am Anfang, als sie nach Deutschland kamen. In der Ukraine gibt es ein Sprichwort dafür: Die Zeit heilt. Jeder Tag, der vergeht, ein bisschen mehr.
Andrii, Irina und Tamara kennen sich mittlerweile bestens in der Region aus. „Es gibt so vieles, was wir hier gemeinsam unternehmen können.“ Insbesondere die Berge haben es Andrii angetan. „Es ist eine wunderschöne Landschaft“, schwärmt er. In Kiew ist er mit seiner Enkeltochter in die Kletterhalle gegangen. Das kann er hier nun auch. „Emma hat positive Erinnerungen daran“, erklärt er.
Zuhause in Kiew haben sie ihre Freizeit alle gemeinsam geteilt. „Die Familienstruktur ist eine andere als in Deutschland. Man ist viel mehr Familie“, versucht er zu erklären. Emma selbst spricht gut Deutsch. Sie hat es im Kindergarten und in der Schule gelernt. Witzig findet sie es, wenn sie hin und wieder für ihre Großeltern übersetzt.
Jetzt hat sich einiges im Leben der Potapov und Markova relativiert. „Wir mussten alle erst einmal viel lernen, bis wir uns einen Alltag aufbauen konnten“, erzählt Iryna. Es gibt keinen Tag, wo sie nicht gemeinsam mit Emma etwas unternehmen. Ob es Fahrradfahren ist, Spazierengehen, Schwimmen, ins Walderlebniszentrum gehen, Rodeln oder im Skatepark mit den Inlinern ein paar Runden drehen.
„Wir versuchen sie als Familie aufzufangen. Es ist ein schwerer Weg, aber wir schaffen das alle, weil wir sie lieben“, sagt Iryna. Als sie das sagt, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Sie lächelt. „Mir tut es leid, wenn ich an die Kinder denke, die das alles erleiden müssen. Dabei sind sie die Letzten, die diesen Krieg wollten.“
Iryna ist 60 Jahre und Andrii 62 Jahre alt. Wie es weitergehen wird? „Das wissen wir alle nicht. Sich jetzt über die Zukunft Gedanken zu machen, das sind Wünsche und Hoffnungen, die nicht konkret und greifbar sind. Die Gegenwart ist jetzt und das ist wichtig. Morgen ist Morgen und nicht Heute“, sagt Andrii Potapov.
Text · Foto: Sabina Riegger



