Die Fremde
Der Kühlschrank surrt, das gelblich schimmernde Licht der Küchenlampe erhellt den Raum gerade so, dass man genug erkennen kann, und irgendwo um mich herum bahnt sich eine Stechmücke ihren Weg an ein Stück meiner Haut. Draußen fegt ein starker Wind. Es donnert und der Regen prasselt auf die Steinplatten vor dem Haus. Es ist später Nachmittag und doch ist es so dunkel, als wäre es längst Abend geworden.
Wenn mein Sonnenbrand nicht so brennen würde, dann hätte ich fast vergessen, wie warm es heute war. Ich bin in Dalmatien und das Meer ist nur einen Steinwurf vom Haus entfernt, in dem ich gerade auf einem hellen Ledersofa sitze und das Gewitter durch die große Glasfassade beobachte.
Bei einem Spiel habe ich heute Vormittag eine Karte gezogen, auf der eine Frage stand, die ich möglichst kurz, aber gleichzeitig auch so persönlich wie möglich beantworten sollte.
Ich wusste sofort, was ich auf die Frage: „Wenn du morgen mit einer besonderen Eigenschaft aufwachen würdest, welche wäre das?”, antworten würde, aber ich wusste nicht, wie ich es möglichst kurz begründen könnte, weil mir dabei schon so viel einfiel, das ich dazu erzählen wollte. Ich versuchte mich trotzdem kurz zu halten und begann in etwa so: „Am liebsten würde ich morgen früh aufwachen und die Fähigkeit besitzen, noch viel mehr Sprachen zu sprechen. Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Und das war vielleicht das größte Geschenk meiner Kindheit. Sprache verbindet uns Menschen und durchbricht Mauern, sie schafft Nähe und gibt einem das Gefühl der Zugehörigkeit. So wie heute Morgen, als ich auf dem Weg zum Bäcker unten im Dorf war…” Meine Zeit war um. Das Signal ertönte und ich konnte nicht zu Ende erzählen.
Aber jetzt, wo es regnet und ich hier sitze und auf die Tastatur tippe, erzähle ich die Geschichte zu Ende: Mir kam also ein alter Herr mit seinen Krücken entgegen. Er sah abgemüht aus. An seiner linken Krücke hing eine Plastiktasche, in der er seine Einkäufe trug. Auf den ersten Blick sah er verbittert aus, vielleicht sogar griesgrämig. Er war groß und trug seine schneeweißen Haare kurzgeschoren. Seine Brille hing ihm wie eine Kette auf dem blauen, kurzen Hemd. Und seine braune Hose hatte Bügelfalten. Die Straße zum Dorfplatz war eng. Ein Opel Kadett drängte sich zwischen uns. Und ich sah den alten Herrn nicht mehr.
Dann erblickte ich ihn wieder. Er saß jetzt auf einer Steinmauer am Straßenrand vor einer kleinen Kapelle. Ich folgte meinem Gefühl und ging über die Straße zu ihm rüber. Ich stellte mich vor und begrüßte ihn. Er sah zu mir hoch und lächelte mich an. „Sjedni”, sagt er und deutete auf den Platz neben ihm.
Und dann saß ich da, neben Dojko, einem 89 Jahre alten Mann, der weder verbittert noch ein Griesgram war. Wir unterhielten uns und er erzählte mir von seinen Reisen nach Stuttgart und Budapest, der Verletzung an seinem Bein und von seiner früheren Arbeit als Bürgermeister hier im Dorf. Er freute sich, dass ich „seine” Sprache sprach und zu ihm rüber gekommen war. Ich lief mit Dojko zu seinem Haus und trug ihm sein Gemüse und das „mali bijeli kruh“, das Weißbrot, auf seine Terrasse.
Ich vergaß die Zeit, während wir redeten. Die Sonne nahm keine Rücksicht und brannte sich auf meine Haut. Draußen fegt der Wind noch immer, aber langsam klärt sich der dunkle Himmel wieder auf. Ich bin glücklich über die Begegnung mit Dojko. Und darüber, dass ich in einem fremden Land keine Fremde bin.



