Kolumne

Erwachsen

Manchmal frage ich mich, wie wir zu dem werden was wir sind? Wann sind wir erwachsen geworden? Wird man das überhaupt? Ich weiß es nicht sicher. Aber was ich genau weiß: Die Reife und das Alter sind zwei unterschiedliche Parameter.

Ich glaube, es sind die Erfahrungen und Beziehungen, Begegnungen, Erfolge, aber auch die Rückschläge, die uns älter werden lassen. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr erleben wir. Wir wachsen. Nicht immer gleich, aber irgendwann schon. Irgendwie. Wie es wohl wäre, wenn wir die Zeit beeinflussen könnten? Ich meine, die Zeit vergeht, ohne Rücksicht auf uns zu nehmen. Eigentlich ist sie ziemlich egoistisch.

Sie hält nie an, pausiert oder wartet auf uns. Ihre unerschütterliche Kontinuität und Widerstandsfähigkeit ist unser Leben. Wir sind mit ihr verbunden. Unausweichlich, von Beginn an.

Was auch immer passieren mag, wir können sicher sein, dass es weitergehen wird. Tag für Tag, Minute für Minute. Also stehen wir wieder auf, um den Einstieg ins Hamsterrad der Zeit nicht zu verpassen.

Gerade muss ich zurückdenken. Ich schließe meine Augen: Ich sitze auf einer alten Parkbank in Wien. Es ist ein kalter, sonniger Tag. Ein Mann läuft an mir vorbei. Wie ich, trägt auch er große Kopfhörer. Seinen beigen Wollmantel trägt er offen. Seine schwarzen Boots werden fast komplett von seiner weiten Jeans verdeckt. Er schaut so oft auf seine Uhr, wie ich blinzle. Fast so als würde die Zeit ihn treiben.

Er sieht jung aus. Vielleicht ist er Mitte Zwanzig. Ein bisschen erinnert er mich an den jungen Christian Bale. Er wirkt wie jemand, der in seinen Gedanken badet. Wie jemand, der an mehreren Orten gleichzeitig sein will. Jemand der versucht, die Physik zu überlisten. Ich frage mich, ob ihn die anderen Menschen auch wahrnehmen? Und was sie wohl denken? Wirkt er so auf sie, wie auf mich? Sieht er mich?

Am liebsten würde ich ihn ansprechen, nach seiner Geschichte fragen, nach dem Lied, das er hört. Er biegt ums Eck. Ich sehe ihn nicht mehr. Die Musik aus meinen Kopfhörern läuft weiter. Max Herre in seinem Sprechgesang: „Das war nur ein Moment. Nur ein Blinzeln, eine Millisekunde. Ein Flirren, ein Funken, etwas bricht sich durchs Dunkel. Aus dem Hintergrund in Bildmittelpunkte- zeigt sich und bleibt mit uns für immer verbunden. Lichtmomente, Kippmomente.“

Was ist Geschichte und was nicht Legende. Was sich verändert, wenn die Sicht sich ändert. Ich öffne meine Augen wieder. Vielleicht ist die Zeit nicht so egoistisch, wie ich zuerst dachte, denn alles ist ein Teil der Zeit, ein Moment. Und wenn wir genau hinschauen, dann verlangsamt sich die Zeit, denn sie ist relativ. So wie auf der Bank in Wien.

Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit, das muss doch der Sinn der Zeit sein!? Und erwachsen werden wir wohl dann, wenn wir gelernt haben, dass die Zeit die Gewissheit und das Vertrauen bringt, dass alles Sinn ergibt. Egal wie es ausgehen wird.

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