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Der unsichtbare König

Der Thron eines Königreichs ist niemals unbesetzt. Just im Todesmoment eines Monarchen, besteigt dessen legitimer Nachfolger den Thron. Nach dem Tod Ludwigs II. von Bayern erhielt sein drei Jahre jüngerer Bruder Otto den Titel „König“. Von diesem Augenblick bis zu seinem Tod im Jahr 1916 – dreißig Jahre später – stand er als König Otto I. von Bayern an der Spitze des Staates.

Otto litt unter einer „paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ wie in einem Gutachten zu lesen ist. Sein Zustand verschlechterte sich so sehr, dass man ihn 1878 unter Vormundschaft stellte. Zwei Kuratoren regelten von nun an sein Leben und seine Geschäfte.

König Otto lebte, von der Öffentlichkeit abgeschirmt, vor den Toren Münchens im Schloss Fürstenried. Jedoch nicht ganz freiwillig. Sein Bruder Ludwig II. hatte ihn 1877 dort unterbringen lassen.

Ottos Konterfei zierte die bayerischen Münzen, sein Porträt hing in allen offiziellen Gebäuden, die Soldaten und Staatsbeamten des Königreichs wurden auf ihn vereidigt. Eigentlich wurde alles wie seit Gründung des Königreichs üblich durchgeführt. Das Procedere folgte einem bestimmten Protokoll, das sich auch bei Ottos Thronbesteigung wiederholte. Mit einer kleinen Ausnahme: Otto regierte keinen einzigen Tag, nahm als König keinen einzigen öffentlichen Auftritt wahr und erfüllte auch sonst keine einzige königliche Aufgabe. Sein Volk bekam ihn während seiner Königszeit nicht zu Gesicht. König Otto I. von Bayern war da – aber auch nicht. Der Grund hierfür war kein Geheimnis. Otto war krank – psychisch krank. Detaillierte Informationen zu seinem Gesundheitszustand wurden damals allerdings nicht veröffentlicht, was sich über die Jahre zu einem wahren Nährboden für Spekulationen und Geschichten entwickelte, die in den unterschiedlichsten Zeitungen erschienen. König Otto lebte, von der Öffentlichkeit abgeschirmt, vor den Toren Münchens im Schloss Fürstenried. Jedoch nicht ganz freiwillig. Sein Bruder Ludwig II. hatte ihn 1877 dort unterbringen lassen und schrieb an Otto: „(…) sehe ich mich veranlasst anzuordnen, dass Eure Königliche Hoheit mit deren Begleitung, den Ärzten und der Hofhaltung, nach Schloss Fürstenried übersiedeln. Ich hege von ganzem Herzen den Wunsch, es möge Eure Königliche Hoheit Befinden recht bald die Wahl eines anderen Aufenthaltes ermöglichen (…)

Was tatsächlich hinter den Mauern des Schlosses geschah, wussten damals nur wenige. Der „Hohe Kranke“ stand unter ständiger Aufsicht von Ärzten und Pflegepersonal und bewohnte ein Appartement des Hauptgebäudes. Seine Wohnung bestand aus einem Salon, einem Schlafzimmer, einem Speisezimmer, einem Badezimmer sowie dem „Weißen Saal“. Die Wände der standesgemäß eingerichteten Räumlichkeiten zierten Gemälde von Hohenschwangau oder Berchtesgaden, die ihn wohl an glückliche Kindertage erinnern sollten. Doch diese königliche Wohnung unterschied sich maßgeblich von anderen Appartements. Die inneren Türklinken wurden entfernt und Gucklöcher in den Zimmertüren garantierten die ständige Überwachung und Kontrolle des königlichen Patienten. Otto litt unter einer „paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ wie in einem Gutachten zu lesen ist. Sein Zustand verschlechterte sich so sehr, dass man ihn 1878 unter Vormundschaft stellte. Zwei Kuratoren regelten von nun an sein Leben und seine Geschäfte.

Psychomotorische Erregungszustände, Gespräche mit halluzinierten Personen und Wahnideen waren Ottos ständige Begleiter. Einer der behandelnden Ärzte vermerkte noch kurz vor Ottos Proklamation zum König in seinem Bericht: „(…) Die vielen Sinnestäuschungen, besonders kindlicher Natur, hatten zur Folge, dass der Hohe Kranke oft recht übel gelaunt war und dann in Wort und Tat dieser Gereiztheit seinen Ausdruck verlieh. Dies zeigte sich vornehmlich bei den Gelegenheiten, bei welchen Seine Königliche Hoheit die Hilfe der Pfleger notwendig hatte, wie beim An- und Auskleiden. So waren Höchstdieselben an 9 Tagen der Berichtszeit gegen ihre Umgebung gewalttätig, an einem Tage in so hohem Grade, dass trotz wiederholter Beruhigung Seine Königliche Hoheit nicht angekleidet werden konnte (…)“.Wache Momente, in denen er sich und seine Umgebung klar und geistesgegenwärtig wahrnahm, wurden mit den Jahren immer seltener. Sein Zustand wandelte sich von Unruhe, Angst und Wahn zu lähmender Lethargie.

Die Nachricht über den Tod seines Bruders Ludwig II. erhielt Otto durch die bestellten Kuratoren. „(…) Die Herren meldeten dem Prinzen Otto vor allem das Hinscheiden seines Bruders, des Königs Ludwig, welche Nachricht dieser ruhig aufnahm, ohne hierüber irgendeine Äußerung zu tun. Die Kavaliere hatten den Eindruck, dass selbst diese erschütternde Botschaft keinerlei Gemütsregung bei dem Kranken erweckte. (…) Erst als die Herren ihn als König begrüßten und ihn mit den Worten „Eure Majestät!“ ansprachen, lächelte König Otto und es drückte sich in seinen Zügen, die sich plötzlich aufhellten, die Freude über diesen neuen Titel aus. Er wiederholte zuerst halblaut und dann mit erhobener Stimme die Worte: „Majestät! Majestät!“ und als nach dem Abgehen der Kavaliere der alte Kammerdiener kam, rief ihm König Otto zu: „Jetzt musst Du mich Majestät nennen! (…)“ . Und so vergingen die Jahre.

Während der König sein tristes Dasein in Fürstenried fristete, überschlugen sich die politischen Ereignisse in Bayern und in der Welt. Der Sohn und Nachfolger des Prinzregenten Luitpold, Ottos Cousin Ludwig ließ sich 1913 vom Prinzregenten zum König proklamieren, obwohl König Otto noch lebte. Eine Tatsache, die Bayern für einige Jahre den Zustand eines doppelten Königtums bescherte. Bereits ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg. Von alledem bekam König Otto nichts oder nur sehr wenig mit. Die Zeiten, in denen er ausgedehnte Selbstgespräche führte und sich in Rage redete, gehörten ebenso bald der Vergangenheit an, wie der ein oder andere Spaziergang, den er im Schlossgarten unternommen hatte. „Die Gemütsstimmung schwankt seit Jahren nicht mehr zwischen Depression und Exaltation, sondern zwischen gleichgültiger Ruhe, stuporösen Zuständen und rasch vorübergehenden heiteren und zornigen Gemütsaffekten“, ist in einem Gutachten aus den letzten Lebensjahren Ottos zu lesen.

Sein körperlicher Zustand, der über die vergangenen dreißig Jahre immer stabil geblieben war, verschlechterte sich rasant im Herbst des Jahres 1916. Am 11. Oktober schwand seine Kraft so schnell, dass der König die letzte Ölung erhielt. Den nächsten Morgen erlebte er nicht mehr. Am selben Abend um 20.50 Uhr verstarb König Otto I. von Bayern. „Sanft und kaum merklich“ war er „hinübergeschlummert“.

Text: Vanessa Richter
Foto: Wikipedia

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