Menschen

Leben lassen möglich machen

Familie ist die beste Therapie

Eine Krankheit zu heilen ist hier nicht unbedingt das Ziel. Zumal dies in den meisten Fällen auch gar nicht möglich ist. Vielmehr geht es darum, Menschen ein Leben zu ermöglichen, das sie gut leben können. Ein Leben ohne Ängste oder scheinbar kaum zu bewältigende Situationen, denen sie bisher oftmals hilflos ausgeliefert waren oder die es ihnen schwer gemacht haben, ihren Alltag und ihr Leben selbst und sicher zu gestalten. Maria Holzheu aus Ronsberg ist eine sogenannte Gastmutter. Schon vor vielen Jahren hat sie sich dazu entschieden, einen fremden Menschen mit einer seelischen Erkrankung für eine längere Zeit bei sich aufzunehmen. Aus dieser „längeren Zeit“ sind mittlerweile sogar schon über 20 Jahre geworden.

Betreutes Wohnen in Familien (BWF) ist eine alternative Wohnform für psychisch erkrankte Menschen. Umgesetzt wird das bundesweite Projekt im Landkreis Ostallgäu und in der Stadt Kaufbeuren vom Geschäftsbereich „Wohnen und Fördern“ der Bezirkskliniken Schwaben, die das BWF im Rahmen der sozialhilferechtlichen Voraussetzungen auch finanzieren. „Als das Projekt damals startete, war es eher noch für ältere Menschen gedacht, die nicht mehr alleine Zuhause leben können“, erklärt Sonja Kniephoff, Leiterin des Fachteams BWF bei den Bezirkskliniken Schwaben. „Mittlerweile wird das aber so gut wie von allen Altersstufen angenommen, von 18 bis 80. Gerade bei jüngeren Menschen haben wir eine stärkere Zunahme, weil generell auch die psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen immer mehr zunehmen.“ Das Prinzip ist, dass die Klienten in eine Familie einziehen und wie ein ganz normales Familienmitglied integriert werden, um stationäre Aufenthalte in Kliniken grundsätzlich zu vermeiden. Das Absolvieren einer speziellen Ausbildung, um einen Menschen bei sich aufzunehmen, ist nicht nötig. „Es genügt die einfache Bereitschaft dazu“, so Kniephoff. „Dabei werden die Familien von unserem dreiköpfigen Fachteam auch regelmäßig besucht und betreut. Voraussetzung für das Betreute Wohnen in Familien ist natürlich, dass diese Klienten stabil und vor allem nicht selbst- oder fremdgefährdend sind.“

Rund 1000 Euro Aufwandsentschädigungen

Die „Klienten“ sind Menschen, die an Psychosen oder Depressionen leiden oder auch Persönlichkeitsstörungen, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen haben. Oft ist es aber auch einfach nur wichtig für diese Menschen zu wissen, dass sie nicht alleine sind. „Das sind beispielsweise Personen, die Stimmen hören und dann jemanden brauchen, der ihnen sagt, dass dort niemand ist“, sagt Sonja Kniephoff. „Es sind im Grunde ganz normale Menschen, wie wir auch, nur dass sie eben eine Diagnose in ihrer Akte stehen haben.“

Dass das Projekt Erfolge verzeichnen kann, steht dabei außer Frage. Immerhin ist auch die Liste der Klienten, die sich seit ihrer Unterbringung in einer Familie mehr und mehr stabilisiert haben, so dass auch keine weiteren stationären Klinikaufenthalte mehr nötig waren, im Lauf der Zeit immer länger geworden. Insgesamt sind es derzeit 14 Klienten, die bei verschiedenen Familien im Landkreis Ostallgäu untergebracht sind, darunter etwa in Roßhaupten oder in Füssen. Ihre eigenen Wohnungen, falls vorhanden, mussten sie für das Projekt aufgeben. Für den zur Verfügung gestellten Wohnraum wie auch den geleisteten Unterhalt, werden die Gastfamilien mit Beträgen bis zu eintausend Euro Aufwandsentschädigungen finanziell unterstützt.

Hat sich eine Familie oder Lebensgemeinschaft dazu entschieden, einen Klienten aufzunehmen, findet ein erstes Kennenlernen zusammen mit dem Fachteam und dem Klienten statt. Hier werden in der Regel sowohl die Wünsche und Anforderungen des Klienten, wie auch die der Gastfamilie berücksichtigt. Passt alles zusammen, wird ein Einzug in die Wege geleitet. Eine Verpflichtung für einen bestimmten Zeitraum gibt es für beide Seiten nicht. Fährt die Gastfamilie mal in Urlaub, ziehen die Klienten vorübergehend meist in andere Gastfamilien ein. Sollte ärztliche Pflege oder Hilfe nötig sein, ist das Fachteam jederzeit erreichbar. „Die Palette unserer Familien ist bunt gemischt“, sagt Sonja Kniephoff. „Das sind Paare mit oder auch ohne Kinder, ältere und auch jüngere Familien. Natürlich gibt es dabei, wie in jeder anderen Familie, auch mal Konflikte, zumeist wegen Kleinigkeiten. Aber auch hier kümmern wir uns gerne, regen zu Gesprächen an oder versuchen eben, diese Konflikte zu lösen.“

Gemeinsames Leben nebeneinander

Richtige Konflikte gab es bei Maria Holzheu in Ronsberg in den vergangenen 26 Jahren nicht wirklich. Ihr Gast heißt Marianne Beier und ist mittlerweile 81 Jahre alt. „Ich hatte Platz, die vier Kinder waren schon aus dem Haus, als ich von dem Projekt gehört habe. Es war eine schwierige Zeit für mich damals und auch ich wollte nicht alleine sein. 1996 ist Frau Beier dann bei mir eingezogen.“ Mit ihrem Gast ist Maria Holzheu nach wie vor per Sie. Marianne Beier ist offensichtlich noch vom alten Schlag, wie man heute sagen würde und verfügt über Höflichkeitsformen, wie sie längst nicht mehr angewendet werden. „Dass wir beim Sie als Ansprache bleiben, war ihr ausdrücklicher Wunsch, sie wollte immer einen Abstand, eine Art Distanz oder Abgrenzung behalten. Das habe ich akzeptiert, obwohl mir auch ab und zu mal das Du raus rutscht.“

„Ronsberg ist meine Heimat geworden“, sagt Marianne Beier. „Ich habe mich hier von Anfang an wohlgefühlt.“ Die schlesische Abstammung in ihrem Akzent ist unüberhörbar. Im jungen Alter kam sie wohl über das unterfränkische Marktheidenfeld nach Kaufbeuren, wo sie auch einer geregelten Arbeit im Landwirtschaftsamt nachging. Seit vielen Jahrzehnten schon ist sie aufgrund ihrer seelischen Erkrankung aber in Behandlung, lange Zeit war sie im Bezirkskrankenhaus stationär untergebracht. Eine weit entfernte Cousine ist heute ihre einzige noch verbliebene Familienangehörige.

Das gemeinsame Leben hat sich längst eingespielt. Mal wird zusammen gefrühstückt, mal zusammen gekocht. Auch gemeinsame Freizeitaktivitäten haben die beiden, genauso wie jeder von den Eigenheiten des anderen weiß. Sogar in Urlaub gefahren sind Frau Holzheu und Frau Beier schon. „Sie ist sehr introvertiert“, so die Gastmutter. „Wenn es ihr zu viel wird, verlässt sie auch einfach den Raum und geht. Das war am Anfang etwas komisch, aber ich habe es verstanden. Verständnis ist hier sehr wichtig, lange Diskussionen gibt es auch nicht. Es ist eine Aufgabe, diese Form von Hilfe zu leisten. Mein größter Wunsch wäre es gewesen, einen Menschen bis dahin zurück zu führen, dass er wieder ein eigenes Leben führen kann.“ Bei ihrem Gast hat dies nicht geklappt. Der große Gewinn liegt nun aber in der langen Zeit, in der Marianne Beier nicht mehr tagtäglich ins Bezirkskrankenhaus musste. „Allein dafür bin ich dankbar“, sagt Maria Holzheu. „Ich habe schnell gemerkt, dass es ihr hier sehr gut geht. So ist sie im Lauf der Zeit auch immer ruhiger geworden.“ Dass ihr Gast so viele Jahre bleibt, war zunächst nicht geplant. Irgendwann kam der Punkt, an dem es sich immer mehr abgezeichnet hat. „Das hat trotzdem sehr lange gedauert“, sagt die Ronsbergerin. „Bis ich das auch für mich selbst akzeptieren konnte.“ Immerhin verfügt Marianne Beier, trotz ihrer seelischen Erkrankung, auch noch eine gewisse Selbstständigkeit. Den Weg zum Frisör nimmt sie regelmäßig, auch in ein Café setzt sie sich gerne, um ein Stück Kuchen zu essen, dazu kommen ausgedehnte Spaziergänge oder der Besuch eines Restaurants. Eine Schifffahrt auf dem Forggensee steht als Nächstes noch auf der Liste der Ausflüge. Wann das sein wird, steht noch nicht fest, ist aber auch nicht wichtig, für ein Leben, das genau so funktioniert.

Wer Interesse daran hat, einen Klienten bei sich aufzunehmen, kann sich bei Sonja Kniephoff informieren.
Telefon: (08341) 72-2190
oder E-Mail: sonja.kniephoff@bezirkskliniken-schwaben.de

Text · Foto: Lars Peter Schwarz

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