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„Die Gesellschaft und die Krankheiten haben sich verändert“

Im Gespräch mit Dr. Martin Beyer

Dr. med. Martin Beyer hat einen besonderen Humor, eine freundschaftliche und vertrauensvolle Art, die seine Patienten mögen. Seit zehn Jahren ist er in Hopfen am See. Erst war er niedergelassener Arzt. Jetzt ist er Leiter des MVZ am Enzensberg. Für ihn aber auch für seine Patienten hat sich damit einiges verändert. „Zum Positiven“, wie er selber sagt. Füssen akutell hat sich mit dem Rehabilitativ-Mediziner zu einem Gespräch getroffen.

Herr Dr. Beyer, sie sind seit zehn Jahren am Fachklinikum Enzensberg und seit sechs Jahren im dortigen Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) tätig. Sie haben dabei zuvor bereits mehrere Praxen in Füssen betrieben. Inwieweit haben sie sich im Zuge dessen auch in der Ausübung ihres Berufs als Arzt verändert?
Mit meinen verschieden Praxen, die ich im Laufe der Zeit als niedergelassener Arzt eingerichtet habe, hat sich auch inhaltlich der medizinische Schwerpunkt und damit das Patientenklientel verändert. Neue medizinische Inhalte rückten in den Vordergrund meiner Diagnostik und Behandlung. Dabei wurde die Bedeutung der Lebenswirklichkeit und Lebensumstände des Patienten immer wichtiger für mich, genauso wie die Bedeutung des Geistes und des Denkens in Bezug auf die Entstehung sowie die Nachhaltigkeit von Krankheit und Gesundheit. Das betrifft denn auch die Bedeutung der anatomischen Veränderungen im zunehmenden Alter, die oft erst dann zum medizinischen Problem werden, wenn funktionelle Störungen des menschlichen Spannungszustands hinzukommen. Bedeutung für meine Behandlungen erlangte zudem die konsequente Einbeziehung genetischer Erbmuster, die Bedeutung übergeordneter Regelkreise wie die des autonomen Nervensystems oder des individuellen Schlaf-Wach-Rhythmus. Wegweisend für diese Denk- und Handlungsweise war die systematische Lehre der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin, da diese wissenschaftlich-gedanklich auf der WHO-Classification of Functioning (ICF) fußt.

Wie lautete das Thema ihrer Doktorarbeit?
Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich sozusagen einen Vorentwurf der Heilmittel-Richtlinie geschrieben. „Das war eine Gesundheitssystem bezogene wissenschaftlichere Arbeit. Ich habe aus diesen Gesetzesvorlagen ein Konzept erstellt. Das habe ich der kassenärztlichen Bundesvereinigung vorgestellt, wofür ich erst Lob erhielt und dann aber zusammengeschissen wurde nach dem Motto: was bilden sie sich ein, was haben sie da vor, das dauert ja 5 Jahre, das umzusetzen. In der Folge war ich dann ganz oft in Köln, Berlin, Trier … ,bis ich endlich Physikalische Medizin als Arzt betreiben durfte, was ich genial fand. Ich habe schließlich quasi mein eigenes Fachgebiet bekommen. Ich war damals weit und breit der einzige Arzt der physikalischen und rehabilitativen Medizin. Es war das letzte fachärztliche Gebiet, das in die fachärztliche Versorgung in Deutschland integriert wurde. So wurde ich dann auch der erste niedergelassene Arzt in dem neuen ärztlichen Fachgebiet in Deutschland. Bis dahin war ich berufspolitisch eigentlich völlig unbeleckt, wusste auch nicht, dass ich der erste in Deutschland war. Dies änderte sich schnell, denn schon bald wurde ich in den Bundesvorstand des Berufsverbandes bugsiert. Und plötzlich wurde aus dem völlig unpolitischen ein liebevoller, politischer Stratege.

Wie lange waren Sie niedergelassener Arzt mit eigener Praxis?
26 Jahre und seit 2015 bin ich als ärztlicher Leiter im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) am Enzensberg angestellt. Der vierte Umzug meines Praxis-Standortes innerhalb Füssens an die Fachklinik Enzensberg war dabei eigentlich die Rückkehr zu den Wurzeln meines medizinischen Lebens als Arzt, denn die erste Station meiner medizinisch-ärztlichen Weiterbildung war die Enzensberg-Klinik, wo ich schon früh genau mit den beschriebenen ganzheitlichen Medizinaspekten der ICF konfrontiert wurde und dies den Umgang mit meinen Patienten maßgeblich prägte. Die medizinischen Möglichkeiten dort, sei es in der Kooperation mit der Akut-Orthopädie oder dem Interdisziplinären Schmerzzentrum sind dann noch als medizinisches Tätigkeits-Sahnehäubchen dazugekommen. Das ist ein Geschenk, für das ich meinen Mitstreitern sehr dankbar bin. Ohne das große Engagement des ehemaligen Kaufmännischen Direktors Hans Achatz und der fortgesetzten Unterstützung durch den Hauptgeschäftsführer der Klinikgruppe Enzensberg, Etzel Walle, wäre all das nicht möglich gewesen.

Warum sind sie eine Kooperation mit dem MVZ eingegangen?
Die Zeiten haben sich geändert für Ärzte. Früher hat man seine Praxis möglichst teuer verkauft als Altersvorsorge. Heute versuchen die Ärzte immer öfter vor ihrem Ruhestand die Nachfolge zu organisieren, was am besten in Form eines Einstiegs oder einer Beteiligung bei einem MVZ geht. Dabei möchte ich nicht ruck-zuck arbeiten, sondern ich brauche Zeit, sonst braucht´s mich nicht. Leider steht die Physikalische & Rehabilitative Medizin immer noch ganz unten auf der Honorarleiter der ärztlichen Fachgebiete, weil sie ein neues und das letzte Fachgebiet ist, das in die fachärztliche Honorar-Ordnung aufgenommen worden ist und die Politik sorgt nicht dafür, dass der Geldtopf größer wird. Trotz der Faszination für das neue Fachgebiet hat diese mangelnde Mittelbereitstellung natürlich auch negative Folgen, da das System diese Medizin mit dem notwendigen zeitlichen Arbeitsaufwand für die Patienten nicht wirklich finanziell angemessen vergütet.
Meine Praxis in ein MVZ einer renommierten Reha-Klinik wie der Fachklinik Enzensberg einzubringen, folgte aber eindeutig anderen Werten, beispielsweise der Tatsache, dass dort genau diese Medizin auch im stationären Bereich intensiv gelebt und wertgeschätzt wird und die fachliche Kooperation und Verzahnung ambulanter und stationärer Strukturen für die Patienten hoch sinnvoll ist. Zudem hat dieser Schritt auch meine Medizin für die Patienten, so hoffe ich, inhaltlich nochmal ein gutes Stück weit revolutioniert und effektiver gemacht

Haben die Patienten verstanden, was ein MVZ ist?
Nein, eigentlich nicht wirklich. Für die Patienten hat das alles etwas spezifischer und greifbarer gemacht, zudem ist alles breiter und komplexer geworden. Heute sind die Krankheitsbilder viel komplexer, so haben die Menschen heute oft nicht nur Rückenprobleme oder es nur an der Schulter, am Knie oder Krampfadern, sondern davon betroffen sind eben auch der Blutdruck und die Konzentration etc., wobei die Menschen häufig das provozieren, was mit ihnen gesundheitlich passiert. Das Ganze ist ein komplexes System, eine ganze körperliche Person, die man nicht nur behandeln, sondern betreuen und fühlen muss.

Sie kommen aus dem Sauerland und sind vor langer Zeit nach Füssen gezogen. War es schwer, die Allgäuer für sich zu gewinnen?
Nein nie, eigentlich ist der Allgäuer der offenen Art sehr zugänglich, wenn du sie ihm gibst, aber man darf nicht erwarten, dass er dann genauso offen ist.

Sind Medizinische Versorgungszentren notwendig und gut?
Ich finde sie zwingend. Die Versorgung wird sich weiter in diese Richtung entwickeln, die reine Einzelpraxis ist auf längere Sicht tot. Da ist eine gigantische Entwicklung im Gange, die wir auch nicht mehr aufhalten werden, denn die Gesellschaft hat sich verändert. Ein Mediziner nur mit seiner eigenen Praxis kann heute so nicht mehr funktionieren.

Haben sich auch die Krankheiten verändert?
Absolut, man denke nur an die Psychotherapie und die Behandlung chronischer Schmerzen, die sehr zugenommen haben. In der Medizin hat sich unfassbar viel verändert, das ist sehr spannend. Schließlich müssen Ärzte Antworten finden, wenn jemand mit einer Krankheit zu ihnen kommt.

Vielen Dank für das Gespräch.
Ich habe zu danken.

Interview · Foto: Sabina Riegger

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