Kolumne

Mitdenken

„Ich fahre heute zu meiner Schwester. Der geht es auch nicht mehr gut.“ Es ist morgens, kurz nach acht, als mich die Nachricht meiner Freundin erreicht. Uns trennen über 700 Kilometer. Ich bin hier und sie ist in Berlin.

Vor einigen Jahren haben wir uns zufällig kennengelernt. Es war ein heißer Tag im August. Wir haben für uns verzweifelt nach einem Stellplatz für die Nacht gesucht. Viele Stunden später war hinter einer engen Kurve dann plötzlich dieser winzig kleine Platz, direkt über dem Meer. Ein paar Minuten später stand dann schon eine große, zierliche Frau mit langen blonden Haaren und brauner Hornbrille vor mir. Sie lächelte und meinte: „Hey, ihr seht total sympathisch aus. Ich wollte einfach mal Hallo sagen. Und falls ihr noch einkaufen geht, könntet ihr uns vielleicht Wasser mitbringen? Ich komme hier nicht weg, weil mein Freund mit hohem Fieber im Wohnmobil liegt.“

Der Rest ist Geschichte.

Ich lese also ihre Nachricht, und mir fällt das kleine Wort „auch“ ins Auge. Ich melde mich bei ihr.
„Die Reserven sind so langsam leer“, sagt sie.

Und ich kann sie fühlen. Manchmal braucht es nicht viele Worte. „Was ist mit dir?“, will sie wissen. Ich erzähle.

„Am meisten belastet mich inzwischen die gesellschaftliche Situation. Es fühlt sich an, als würde das Land gespalten. Als würden zwei Fronten aufeinander prallen. Es ist schwarz oder weiß. Aber ich finde das falsch, und es ist gefährlich.“

Die Schwester meiner Freundin gehört zu den geschätzt 36,5 Millionen Menschen in Deutschland, die ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf nach einer Corona-Infektion haben.
Sie ist Mitte 30. Und kein „alter Sack, wegen dem wir in einer Diktatur ohne Grundrechte leben müssen“, wie eine Verkäuferin gestern einen älteren Herren vor mir an der Kasse beschimpft hat.

Ich bin wütend und enttäuscht über die Bildungspolitik, ich denke an Alleinerziehende, an die, die ihren Job verloren haben, an die, die in schwierigen Verhältnissen leben, Kinder, die vernachlässigt werden, an Alleinstehende, an Leute, die um ihre Existenz bangen müssen. An Menschen, die einsam gestorben sind. Und an ihre Hinterbliebenen. Ich denke an alle Kinder da draußen. Vor allem an meine. Ich leide mit ihnen.
Ich denke an das medizinische Personal. An ihre Sorgen, ihre Müdigkeit, ihr Engagement, aber auch an ihre Wut und ihre Ohnmacht. Ich denke an die Schwester meiner Freundin.

Ich denke an mich, als mir das Medikament im Krankenhaus durch die Vene läuft. Als eine Mutter von zwei kleinen Kinder. Als eine von den 36,5 Millionen da draußen.
Ich denke an die Verkäuferin. An ihre Wut. Ich denke daran, wie wertvoll es ist, in einer Demokratie leben zu können.
Ich denke daran, dass es wieder aufwärts gehen wird. Und es gemeinsam leichter geht als gegeneinander.

„Die Welt lebt von Menschen,
die mehr tun als ihre Pflicht.“
(Ewald Balser)

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