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Distanzunterricht ist und bleibt eine Notlösung. Aus der Sicht vieler Lehrer eine unerträgliche Situation, die sich ändern muss.

Distanzunterricht ist ein neu entwickeltes Wort in der deutschen Sprache. Für jemanden wie mich, der in den 70er und 80er Jahren aufgewachsen ist, ein eher komisches oder gar unverständliches Wort aus zwei Wörtern, die zusammengesetzt nicht wirklichen einen Sinn ergeben. Denn ein Unterricht, so wie ich ihn kenne, sollte schließlich immer auf einer Ebene stattfinden, in der Wissen und Werte persönlich und leibhaftig vermittelt werden. Schon früher konnte ich mit dem „Telekolleg Mathematik“, der im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, nichts anfangen. Heute dagegen sind Schülerinnen und Schüler aufgrund der immer noch anhaltenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus förmlich dazu gezwungen, den Stoff per Livestream über den Bildschirm aufzunehmen und zu verstehen. Was sich in der Theorie einfach und unglaublich modern anhört, sieht in der täglichen Praxis allerdings doch oft ganz anders aus.

Distanzunterricht ist eine Form des Schulunterrichtes, die sich aus der Beschulungspflicht des Staates und damit Aufrechterhaltung des Unterrichtes bei Auftreten einer Pandemie ergibt. Genau so wird der Begriff offiziell erklärt. Von Pflicht und Aufrechterhaltung ist die Rede, der sowohl Schüler als auch Lehrer nachkommen müssen. So hat jeder Schüler einen Zugang zu einer jeweiligen Plattform, wie etwa Microsoft Teams. Der Online-Unterricht, der täglich maximal drei Stunden dauert, beginnt montags bis freitags jeweils um acht Uhr. Aus Sicht von Anna-Verena Jahn, Klassenlehrerin an der Füssener Anton-Sturm-Mittelschule, klappe dies eben bei einigen Schülern sehr gut, bei anderen umso weniger. „Hier fehlt eine Art von Kontrolle, denn zwischen eingeloggt sein und aufpassen oder überhaupt vor dem Bildschirm anwesend zu sein, besteht ein großer Unterschied.“ Zwar können die Schüler über die Plattform ihren Lehrer sehen, der Lehrer die Schüler allerdings nicht, was rechtlich auch nicht erlaubt ist. Auch ihr Mikrofon müssen die Schüler nicht dauerhaft aktivieren. “Ein Schüler sagte mir, er habe über eine ganze Woche hinweg technische Probleme gehabt, wovon die Eltern am Ende gar nichts wussten. Die Mutter eines anderen Schülers bestätigte mir, dass ihr Sohn jeden Morgen pünktlich vor dem Rechner sitzt. Dass er den Unterricht aber nicht verfolgt, stellte sich erst später heraus, als klar wurde, dass er die Zeit nutzt, um kostenpflichtige Spiele herunterzuladen.“

Das Buch der unglaublichsten Ausreden

Dazu komme, dass der Arbeitsaufwand für den Distanzunterricht für die Pädagogen noch wesentlich höher ist. Nicht nur die Vorbereitung nehme viel Zeit in Anspruch, auch sind viele Lehrer an sieben Tagen rund um die Uhr telefonisch für ihre Schüler erreichbar. So hat Anna-Verena Jahn nicht selten das Gefühl, dass sie in einen leeren Bildschirm spricht, ohne dass jemand wirklich verfolgt, welches Thema in der jeweiligen Stunde gerade behandelt wird. „Das merke ich vor allem dann, wenn ich die Fragen lese, die mir meine Schüler aufs Handy schicken, weil sie etwas nicht verstanden haben oder wenn ich die Hausaufgaben korrigiere, vorausgesetzt ich bekomme sie auch.“ Somit stelle die aktuelle Situation für viele Lehrer einen oft nicht tragbaren Zustand dar. „Es ist ein ständiges Hinterherlaufen. Motivation über den Bildschirm ist nicht möglich. Der pädagogische Leitsatz „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ funktioniert so nicht.“ Anna Jahn könnte ein Buch schreiben, sagt sie, besonders über die zahlreichen Ausreden, die sich Schüler und auch deren Eltern oft einfallen lassen. Vom Hund, der das Handy zerbissen hat, bis zum Laptop, das unglücklicherweise ins Aquarium gefallen ist, ist hier so gut wie alles dabei. Insgesamt 18 Schüler sind es, die sie in ihrer Klasse betreut.

Erreichbarkeit von früh bis spät

Die gleichen Erfahrungen macht auch die Kreisvorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Nicoletta Schelldorf, die ebenfalls eine sechste Klasse an der Füssener Anton-Sturm-Mittelschule unterrichtet. In ihrer Klasse sind auch Kinder mit Förderschul- oder Migrationshintergrund, bei denen zudem auch noch sprachliche Barrieren bestehen. Um diese Barrieren aus dem Weg zu räumen, wurde für diese Schüler nun sogar ein zusätzlicher intensiver Deutschunterricht eingerichtet. Einzelne Schüler werden, mit Leihgeräten verteilt in den Klassenzimmern, zudem direkt in der Schule persönlich unterrichtet.

Nach dem dreistündigen Online-Unterricht am Vormittag bleibt auch Nicoletta Schelldorf auch nach dem Unterricht für ihre Schüler erreichbar. Dafür genutzt werden Sprachnachrichten, Emails, Whatsapp oder Telefon, bis hin zum Hausbesuch, um die neuesten Unterlagen auszutauschen. „Natürlich gibt es, wie überall, mehr und auch weniger engagierte Kollegen, das ist klar. Aber wir schöpfen wirklich fast alle Möglichkeiten aus, um den Unterricht durchzuführen“, so Schelldorf. „Allerdings kommt es mir dabei oft so vor, dass ich so gut wie immer erreichbar sein muss, während manche Schüler nur dann mitmachen, wenn sie gerade Lust dazu haben. Das ist belastend. Natürlich gibt es auch Schüler, die prima mitmachen und denen der Online-Unterricht Spaß macht. Aber das allgemein gezeichnete Bild von der heilen Unterrichtswelt in diesen Corona-Zeiten können wir nicht bestätigen.“

Online-Schooling kann das Leben nicht ersetzen

„Die Luft ist jetzt auch einfach raus“, sagt Katrin Simeth, Studienrätin an der Erich-Kästner-Schule, dem Sonderpädagogischen Förderzentrum in Füssen. „Kinder brauchen den sozialen Austausch und das Miteinander.“ Nach mehreren Monaten Online-Schooling kann sie ihre insgesamt 14 Schüler nun seit wenigen Wochen wieder zum Präsenzunterricht empfangen. Um diesen aber überhaupt wieder so durchführen zu können, wie es vorher einmal war, mussten viele Kinder erst wieder das passende Verhalten dafür lernen. „Das Bild des lernenden Schülers hat zu Hause eben anders ausgesehen, als in der Schule“, sagt Simeth. „Das beginnt mit ruhig am Tisch sitzenbleiben, während des Unterrichts nicht essen, aufpassen oder einfach nur den alltäglichen höflichen Umgangsformen. Manche tun sich sogar schwer, wieder mit anderen Kindern zu interagieren. Auch ein pädagogisch, didaktisch und medial optimal gestaltetes Online-Schooling kann Lernen und Leben in der Schule nicht ersetzen. Kinder und Jugendliche brauchen soziale Gemeinschaft zum Lernen und Lehrer, die persönlich lehren und erziehen.“ So funktioniert der Distanzunterricht an weiterführenden Schulen, wie Realschule oder Gymnasium, zumeist auch wesentlich besser, was daran liegt, dass ältere Schüler auch mehr Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem eigenen Lernverhalten aufweisen. „Schüler der Grund- und Mittelschulen brauchen dagegen oft noch mehr Motivation und Kontrolle. In Zeiten wie diesen dann aber von den Eltern zu verlangen, neben der Berufstätigkeit oder dem Home Office diese Pflichten auch noch zu übernehmen, ist in vielen Fällen verständlicherweise so gut wie unmöglich.“

Ein weiteres Problem wird sich allerdings noch in den nächsten Jahren aus dem Zulauf zu den höher qualifizierteren Schulen ergeben, da die Wechselmöglichkeiten aufgrund der durch die Corona-Pandemie verursachten Defizite in der Vermittlung des Lernstoffes nun vereinfacht worden sind. Hier ist anzunehmen, dass viele Schüler jetzt auf die Realschule oder das Gymnasium wechseln werden, die sonst weiterhin an der Mittelschule verweilen würden. „Dies wird dann zu volleren Klassen führen, was dazu beiträgt, dass viele Schüler nicht mehr individuell gefördert werden können“, ergänzt Nicoletta Schelldorf. „Von diesen Schülern werden dann einige in der siebten und achten Klasse wieder zu uns zurückkommen, weil sie die Anforderungen dort doch nicht schaffen. Dann verlagert sich dieses Problem wieder zu uns.“

Text:Lars Peter Schwarz · Foto: Envato

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