KulturLeben

Bücher hinter Gittern

Am 23. April ist der Welttag des Buches. Seit 1995 ist es ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Aktionstag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren. Joerg Pfuhl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Lesen, erklärt hierzu: „Lesen ist ein einzigartiges, inspirierendes Erlebnis. Wir wollen Menschen die Lust am Lesen vermitteln – gerade denjenigen, die wenig, selten oder gar nicht lesen.“

Genau das versuchen die Gefangenenbibliotheken in den Justizvollzugsanstalten in Kempten und Memmingen. Trotz hoher Mauern, Sicherheitsschleusen und verschlossener Zellentüren bringen sie ein Stück Normalität, Bildung und letztendlich die große weite Welt in die Zellen. Bücher können helfen zu resozialisieren. „Ich möchte die Vermutung aufstellen, dass kaum so viel gelesen und mit der Hand geschrieben wird wie in einem Gefängnis, weil die Inhaftierten kein Smartphone und nur selten einen Computer besitzen dürfen und diesen nur ohne Internetanschluss. Das Buch ist zwar nicht das einzige Fenster zur Außenwelt, weil die Gefangenen zum Beispiel einen Fernseher besitzen. Allerdings sind derzeit pandemiebedingt die Besuche von Angehörigen, Freunden und Ehrenamtlichen nur eingeschränkt möglich und Ausgänge und Urlaub ausgesetzt. Zudem sind Gruppenfreizeitangebote eingeschränkt worden, so dass das Buch in Coronazeiten noch mehr an Bedeutung in einer Justizvollzugsanstalt gewonnen hat“, erklärt Anja Ellinger, Direktorin der beiden Justizvollzugsanstalten. Füssen aktuell informierte sich beim Anstaltslehrer Ingo Straßer über die Wichtigkeit der Bibliothek in Kempten.

Wie viele Gefangene sind bei Ihnen in Kempten und hängt der Bestand der Bücher in der Bibliothek mit dieser Zahl zusammen?
Die Justizvollzugsanstalt Kempten verfügt über 338 Haftplätze. Derzeit ist die Belegung bei rund 280 Inhaftierten. In Fachkreisen zu Gefängnisbüchereien spricht man davon, dass bis zu 20 gut ausgesuchte „Einheiten“ pro Haftplatz vernünftig sind. Dies entspricht für die Justizvollzugsanstalt Kempten einem Bestand von ca. 6800 Artikeln. Die Räumlichkeiten für die Gefangenenbücherei wurden bereits bei Planung und Bau der Justizvollzugsanstalt berücksichtigt, so dass ausreichend Platz für eine gut sortierte Bücherei zur Verfügung steht.

Wie oft haben Sie die Möglichkeit, die Bibliothek zu aktualisieren?
In der Regel wird die Gefangenenbücherei einmal im Jahr aktualisiert – Fehlartikel, beschädigte und nicht gefragte Artikel aus dem Bestand genommen, neue Bücher eingearbeitet und nach und nach die Nutzerfreundlichkeit weiter verbessert. Die letzte Gesamtinventur und Aktualisierung wurde gerade Ende Februar 2021 abgeschlossen.

Seit wann besteht die Gefangenenbibliothek in Kempten?
Die Gefangenenbücherei der Justizvollzugsanstalt Kempten besteht seit Eröffnung der Anstalt 2003 und wurde auf dem Bestand der alten Justizvollzugsanstalt von ca. 2840 Büchern aufgebaut.

Wie viele Medien werden angeboten?
Mittlerweile umfasst der Bestand der Justizvollzugsanstalt Kempten etwas mehr als 9200 Büchereiartikel. Mehr sollen es auch nicht werden. Der Bestand wird lediglich regelmäßig aktualisiert. Es befinden sich 67 Zeitschriften, 20 Schachspiele und 30 Sprachkurse mit Discman und CDs im Sortiment, der Rest sind Bücher.

Wie wichtig ist das Bibliotheksangebot im Gefängnis?
Das Gefangenenbüchereiwesen in Deutschland lässt sich rund 150 Jahre zurückverfolgen. Es ist sogar im Strafvollzugsgesetz verankert. Unter den Restriktionen des Strafvollzugs – Gefangenen ist beispielsweise der Zugang zum Internet strikt untersagt – stellt die Gefangenenbücherei eine wesentliche Säule zur Erhaltung des Rechts auf Informationsfreiheit dar. Sie ist für die Inhaftierten eine wichtige Dienstleistungseinrichtung im Freizeit- und Bildungskontext, ermöglicht in gewisser Weise die Teilhabe am öffentlichen Leben und stellt ein „Fenster zur Außenwelt“ dar. Dass sie eine positive Wirkung auf den Resozialisierungserfolg haben kann, ist unbestreitbar.

Hilft Bildung Rückfälle zu reduzieren?
Statistisch verfügen ca. 30 % der erwachsenen Inhaftierten über keinen Schulabschluss und 50% über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Bildungsangebote sind ein wesentlicher Bestandteil zur Erfüllung des Behandlungsauftrags des Justizvollzugs mit dem Ziel, auf eine künftige deliktfreie Lebensführung hinzuwirken.

Dürfen eigene Bücher mitgenommen werden?
Um das Einschmuggeln verbotener Gegenstände oder Substanzen zu verhindern, ist es nicht erlaubt, eigene Bücher in die geschlossenen Bereiche der Justizvollzugsanstalt mitzunehmen. Bringt ein Inhaftierter welche mit, werden diese in der Regel mit seinen sonstigen Sachen bis zu seiner Entlassung verwahrt. Jeder Gefangene hat über die Nutzung der Bücherei hinaus die Möglichkeit, sich über eine mit der Justizvollzugsanstalt kooperierende, vertrauenswürdige Buchhandlung auf eigene Kosten Bücher zu bestellen.

Ist es möglich, Bücher zu spenden, auch gebrauchte?
Ja, der Bestand der Bücherei generiert sich in erster Linie aus Bücherspenden, auch gebrauchter. Da die Gefangenenbücherei mittlerweile recht gut sortiert ist, werden allerdings nur noch relativ aktuelle Bücher angenommen. Einschränkungen zur Thematik gibt es so gut wie keine. Die Bücher dürfen nicht zu Straftaten aufrufen oder extremistische Neigungen fördern, bestenfalls sollten sie in unserem Sinne positiv auf die Insassen wirken.

Werden Autorenlesungen oder literarische Veranstaltungen in den Justizvollzugsanstalten angeboten?
In der Justizvollzugsanstalt Kempten werden normalerweise jährlich zwei bis drei kulturelle Veranstaltungen angeboten. Corona-bedingt sind diese jedoch derzeit ausgesetzt. Eine für den Mai 2020 geplante Lesung von Joe Bausch (Gefängnisarzt a. D. in der Justizvollzugsanstalt Werl in Nordrhein-Westfalen und bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort) zu seinem neuen Buch „Gangsterblues“ musste leider aus Gründen des Infektionsschutzes abgesagt werden. In der Regel handelt es sich aber eher um Konzerte. Musikalische Veranstaltungen sprechen mehr Inhaftierte an.

Wie viele Bücher werden täglich in Kempten ausgeliehen?
Für die Gefangenen besteht einmal wöchentlich die Möglichkeit, Bücher zu erhalten. Wöchentlich sind durchschnittlich ca. 180 bis 200 Büchereiartikel im Umlauf.

Welches Genre wird gerne gelesen?
Die Favoriten sind: Bibeln und Korane, Wörterbücher und Sprachlehrbücher, Allgemeinwissen und Wissenswertes, Literatur zu Lebenshilfe und Psychologie, Erzählungen und Gedichte, Fantasy / Mystery, Thriller / Polit-Thriller.

Die Gefängnisbüchereien in den Justizvollzugsanstalten in Kempten und Memmingen sind gut sortiert.

Nutzen die Insassen die Zeit sich weiterzubilden oder einen Schulabschluss zu machen? Wenn ja, können Sie das in Zahlen belegen?
Ja. 2020 sah die Jahresbilanz in der Justizvollzugsanstalt Kempten trotz der Corona-bedingten Einschränkungen folgendermaßen aus: Zwei Inhaftierte absolvierten eine anerkannte Berufsausbildung und einer eine Meisterausbildung. 27 Gefangene nahmen an sonstigen beruflichen Ausbildungsmaßnahmen teil. Solche sind Gabelstaplerlehrgänge, Qualifizierung im Lagerwesen mit Gabelstaplerlehrgang, anerkannte Qualifizierung in Küche, Wäscherei, Gebäudereinigung und Service (Dienstleistungsassistent). Fünf Inhaftierte erlangten nach fünfmonatiger Vorbereitung den erfolgreichen Abschluss der Mittelschule. 151 Gefangene waren unterschiedlichen Deutsch- bzw. Integrationskursen zugeteilt, davon legten sechs die offiziellen A2-Prüfungen ab. Neun Teilnehmer zählte ein Kurs „Wirtschaftliche und rechtliche Themen aus dem Alltag“. Dazu kamen vier Verlegungen zu Bildungsmaßnahmen in andere bayerische Anstalten.

Wie aktuell ist das Angebot der Bücher und nach welchen Kriterien werden neue Bücher und Medien angeschafft?
Darin begründet, dass der Bestand der Bücherei in erster Linie aus Spenden gebrauchter Bücher besteht, ist das Angebot in der Gesamtschau nicht topaktuell. Neue Artikel werden dann angeschafft, wenn dies der Bedarf erfordert, zum Beispiel bei Gesetzbüchern, Wörterbüchern, Sprachlehrbüchern und Sprachkursen, islamischer Literatur, sonstiger Fachliteratur …

Werden Bücher auch in anderen Sprachen angeboten?
Im Bestand befinden sich über 1200 Bücher in mehr als 20 Fremdsprachen. Da viele Gefangene das Deutsche kaum beherrschen, ist fremdsprachige Literatur wichtig. Am häufigsten sind Englisch, Russisch und Türkisch, gefolgt von Italienisch, Französisch, Spanisch und Polnisch. In manchen Sprachen handelt es sich nur um einzelne Exemplare. Die Inhaltsprüfung und Einarbeitung der fremdsprachigen Bücher stellt teilweise eine gewisse Herausforderung dar.

Ist die Bibliothek bei Ihnen gleichzustellen mit den öffentlichen?
Zwar hat die Gefangenenbücherei wie andere öffentliche Bibliotheken die klassischen Aufgaben der Kultur- und Informationsvermittlung, sie ist aber nicht frei zugänglich und schon gar nicht öffentlich.
Während es sich bei öffentlichen Bibliotheken in der Regel um Freihandbibliotheken handelt, in denen der Entleiher die Bücher beim Schmökern für sich entdecken kann, erfolgt die Auswahl der Bücher in der Gefangenenbücherei aus sicherheitstechnischen und organisatorischen Gründen über einen Katalog, der in allen Stationen ausliegt. In diesem sind alle Büchereiartikel nach Kategorien sortiert gelistet und mit Kurzbeschreibungen versehen. Die Bestellung und Verlängerung erfolgt über den sog. Bücherbestellzettel.
In öffentlichen Bibliotheken nehmen moderne Medien längst einen großen Raum ein. In der Gefangenenbücherei der Justizvollzugsanstalt Kempten beschränkt sich dies auf Discman und CDs im Zusammenhang mit den Sprachkursen – keine Musik, keine Hörspiele, keine DVDs, keine Bücher zum Herunterladen, …

Wer betreut die Bibliotheken bei Ihnen?
Den Büchertausch und sonstige tägliche Arbeiten, die in der Bücherei anfallen, übernimmt ein Gefangener, der sog. Büchereihausarbeiter.

Text: Sabina Riegger · Fotos: JVA Kempten/Memmingen

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