Kolumne

Countdown

Ein bisschen fühle ich mich gerade wie ein Fahrradreifen mit Loch. Da ist dieses leise Zischen und ein komisches Gefühl beim Treten. Die innere Stimme wird lauter, ich will sie verjagen: „Nein, geh weg! Da ist kein Loch im Reifen.“ Die Stimme wird leiser, aber das Geräusch lauter. Die Felge rattert auf dem Asphalt. Autsch.

Ich bin der Reifen mit Loch. Leider. Vielleicht fühle ich mich aber doch eher nach schleifender Felge, oder nach beidem? Ich bin unsicher. Naja, ich denke, es macht ohnehin keinen großen Unterschied. So oder so, Fahrradfahren geht anders.

Meine Freundin ist Inderin und und lehrt ayurvedische Medizin. Sie schreibt Bücher und forscht für eine Universität in England. Und ich kann es nicht verstehen, aber im Moment hilft nichts. Kein Ayurveda, kein Asana, keines ihrer Öle, noch nicht mal, wenn ich früher ins Bett gehe als meine eigene Oma.

Mein Nacken zwickt und ich bin müde. Aber eigentlich weiß ich wahrscheinlich doch, woran das liegt. Und ich wünschte, ich könnte besser damit umgehen, aber ich kann es nicht. Ich streiche jeden Tag ab, der mich dem meteorologischen Frühlingsanfang näher bringt: Noch 90 Tage. So sieht es in mir aus.

Es ist 16.48 Uhr und in wenigen Minuten ist es draußen stockdunkel. Ich weiß, der Winter ist für Plätzchen backen, lange Spaziergänge, knisternde Öfen, Wintersport und kitschige Überschriften wie „schneebedeckte Landschaft“ reserviert. Ich klinge wie der Grinch- der Winter Grinch. Und das will ich eigentlich gar nicht. Ich liebe unseren Ofen, Spaziergänge, Plätzchen, das alles. Aber ich mag keinen Schnee und die Dunkelheit, keine Sessellifte und kein Schlittschuhfahren.

Ich liebe das Wasser, das Meer, die Wärme. Lagerfeuer, barfuß laufen, zelten, nachts nackig baden gehen und auf dem Gaskocher kochen, Maiskolben ernten und grillen, eben ohne Loch im Reifen Fahrrad fahren. Mitten in den Bergen zu leben und sowas zu sagen fühlt sich nach gefährlichem Outing an. Bin ich eine Verräterin?

An dieser Stelle könnte mir nichts besseres einfallen, als Charlie Chaplin sprechen zu lassen: „Sorge dich mehr um dein Gewissen als um deinen Ruf. Denn dein Gewissen ist das, was du bist, dein Ruf ist das, was die anderen von dir halten. Und das, was die anderen von dir halten, ist ihr Problem.“

Mein Gewissen ist rein. Danke, Charlie.

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