Kolumne

Das Boot

Ich wühle mit meinen Händen im kalten Boden. Die Erde schiebt sich immer weiter unter meine Nägel, während ich die einzelnen Tonstücke einer zerbrochenen Schale zusammensuche. Hier draußen ist es kalt. Kein Auto fährt vorbei, niemand ist unterwegs, alles ist ruhig. Irgendwie fühlt es sich an, als würde die Welt um mich herum gerade still stehen. Die Sonne wärmt mir meinen Rücken und ich denke nach.

Meine Hände sind inzwischen ganz schwarz vor lauter Erde. Und ich bin so glücklich darüber. Ungefähr fünf Stunden entfernt von mir lebt meine Freundin. Ich muss gerade an sie denken, weil ich weiß, wieviel Freude ihre Kinder hätten, wenn sie jetzt hier im Garten auch wühlen könnten.

Meine Freundin ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern. Und ihr Zuhause ist nicht gerade groß, um nicht winzig zu sagen. Ich bin hier und sie ist in Italien.

Ich höre ihre Stimme im Ohr und wie sie gestern am Telefon sagte: „Ich habe große Angst. Aber mach dir keine Sorgen um uns. Wir schaffen das. Ganz sicher.“

Ich vergrabe meine Hände noch tiefer im Boden. Es beruhigt mich irgendwie. Meine Gedanken fahren Karussell- ich fühle Ehrfurcht. Für meine Freundin. Und für viele andere.Draußen in der großen Welt gibt es so viele Menschen, denen ein kleines Loch in der Wiese nicht reichen würde, um ihren Stress, ihre Sorgen darin zu vergraben.

Aber es gibt da diesen Spruch: Alles Schlechte hat auch etwas Gutes.

Und das stimmt. Plötzlich sitzen wir Menschen alle im selben Boot- das verbindet, bringt Zusammenhalt und zeigt sich mit allen Facetten der Solidarität.

Wir hoffen und beten gemeinsam. Unabhängig von Herkunft oder sozialem Hintergrund. Europa rückt zusammen. Die ganze Welt.

Und alles steht beinahe still. Für viele aber nicht erst seit ein paar Tagen oder Wochen. Da gibt es Kinder und Jugendliche, Männer und Frauen, die wir nicht vergessen dürfen. Menschen, die nur darauf hoffen können, von uns abgeholt zu werden.

Ganz vorne im Boot sitzen die, denen viele das Ruder wohl nicht zugesprochen hätten.

Aber genau diese Menschen, sorgen dafür, dass ich mir gleich die Hände mit Seife waschen kann. Dass Briefe ankommen, kranke unermüdlich behandelt werden, wir zu Essen haben und vor allem, dass dieses gefährliche und tückische Boot möglichst sicher und vollbesetzt in den Hafen fahren kann.

In einem Artikel neulich stand: „Posttraumatisches Wachstum ist wesentlich häufiger, als eine posttraumatische Belastungsstörung.“

Und ich finde, der Satz „Bleib gesund!“ ist der lebende Beweis dafür…

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