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Trauer und Tod

Wenn der Schmerz des Verlustes unendlich groß ist

In Deutschland sterben pro Jahr rund 850.000 Menschen. Im Jahr 2010 starben 2.322 Säuglinge unter einem Jahr, 1.163 Kinder bis 15 Jahre und 1.138 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 20 Jahren (Quelle: Statistisches Bundesamt). Trotz dieser Zahlen sind Trauer und Tod in unserer heutigen Gesellschaft immer noch Tabuthemen. Keiner möchte darüber sprechen. Es sind Themen, die man weit von sich drängt. Dabei gehört der Tod zum Leben dazu und die Trauer zum Tod. Es ist ein Ausnahmezustand, eine Situation die unwiderruflich ist. Das zu begreifen ist schwer. „Es ist wie in Watte gepackt zu sein. Man bekommt irgendwie alles mit nur viel gedämpfter. Ganz weit weg von einem selbst“, erzählt Sophie. Als ihr Bruder starb, brach für sie eine Welt zusammen. Anfangs konnte sie nicht trauern, weil keine Zeit dafür war. Es musste so viel erledigt werden. Sie war froh tagsüber funktionieren zu müssen und am Abend fiel sie in sich zusammen. Die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast schreibt, dass wir uns über unsere Bindungen definieren – der Tod eines geliebten Menschen erschüttert uns daher in unserem Selbstbild. Trauer verändert sagt sie. „Wir gehen bewusster durchs Leben, legen vielleicht ganz andere Maßstäbe an unseren Alltag an, entwickeln einen Blick für das, was wir als wesentlich ansehen.“ Der Psychoanalytiker Collin Murray Parkes bezeichnet die Trauer als den größten Stress, der einem Menschen wiederfahren kann. Außenstehende können mit dieser Trauer und dem Wandel der betroffenen Trauernden nicht umgehen. Sie fühlen sich überfordert. „Trauer ist eigentlich nur erträglich, weil sie in einer Art Wellenbewegung verläuft. Wir pendeln emotional hin und her. Wir richten unser Augenmerk auf den Schmerz des Verlustes, seine Tragweite und Bedeutung – und dann wenden wir uns geistig wieder unserem direkten Lebensumfeld zu, den anderen Menschen, den Vorgängen in der Gegenwart. Unsere Stimmung hellt sich vorübergehend auf und wir treten in Kontakt zu unserer Umwelt. Dann tauchen wir erneut ab und setzen unseren Trauerprozess fort. Diese kurzfristigen Stimmungsumschwünge sorgen für eine vorübergehende Linderung unseres Schmerzes. Auf diese Weise sind sie uns behilflich, uns allmählich an den Verlust zu gewöhnen,“ sagt Trauerforscher George A. Bonanno.

Noch zu Zeiten der Großeltern gab es feste Trauerrituale. Die Menschen starben zu Hause in der Familie. Man hatte Zeit sie zu begleiten und sich den Raum für die eigene Trauer zu nehmen. Heute hat sich alles gewandelt. Die Großfamilien gibt es nicht mehr und folglich auch keine Trauerrituale. Die Angehörigen sterben im Pflege- oder Seniorenheim oder im Krankenhaus, manchmal auch ganz weit weg von Zuhause. Da ist kein Platz mehr für die Trauer und leider bekommt man auch nicht die nötige Zeit dazu. Denn die Gesellschaft erwartet, dass sich der Trauernde schnell wieder fängt und funktioniert.

Trauern ist aber sehr wichtig. Nimmt sich der Trauernde nicht die Zeit dazu und verdrängt den Verlust, kann er sicher sein, dass ihn die Vergangenheit einholt und das womöglich mit voller Wucht. Dabei ist die Art der Trauer von Mensch zu Mensch verschieden. Kinder trauern anders als Erwachsene. „Mir ist bei der Behandlung depressiver Erkrankungen immer wieder aufgefallen, daß Verlusterlebnisse zu wenig betrauert wurden. Trauer ist ein Thema, das zu wenig beachtet wird, gemessen an der großen Bedeutung, die sie für unsere psychische Gesundheit hat“, erklärt die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast.

Wie kann man einem Trauernden helfen?
Trauernde leben in einem Ausnahmezustand und leiden körperlich und seelisch. Mal gibt es Zeiten wo sie lachen können und dann tun sich wieder Abgründe auf, wo der Schmerz nicht enden will. Sie sind nicht in der Lage um Hilfe zu bitten weil sie in ihrer Situation bildlich gesprochen „sprachlos“ sind. Selbsthilfegruppen, das Zuhören und einfach da sein, können dem Trauernden helfen.

Bücher-Tipps:
Verena Kast: Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses (Zürich 1982). Fast schon ein Klassiker für Menschen, die jemand Nahestehenden verloren haben. Zeigt für jeden verständliche psychologische Hintergründe: Trauern ist ein lebendiger Prozess mit vielen wechselnden Gefühlen.
George A. Bonanno: Die andere Seite der Trauer. Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden (Bielefeld 2012). Ein aktuelles Buch des renommierten Traumaforschers. Interessante Darstellung, wie und warum Menschen Krisen überwinden.
Beatrice von Weizsäcker: Ist da jemand? Gott und meine Zweifel (München 2012). Als ihr Bruder an Krebs stirbt, zweifelt Beatrice von Weizsäcker an Gott. Ein sehr persönliches Buch über das Leben vor und nach dem Tod eines Angehörigen.
Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer (Darmstadt 2012). Die zentrale These: Trauer ist kulturell determiniert. Ein interessantes Buch über die heutige kommerzialisierte Gesellschaft.

Text: rie

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