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Ess-Störungen

Verdrehtes Selbstbild

Jeder zweite Deutsche wäre gerne schlanker. Die Themen Ernährung und Figur werden immer mehr zum Problem in unserer Gesellschaft. Gerade junge Menschen sind anfällig für ein gestörtes Essverhalten. Der Weg in eine ernsthafte Erkrankung ist dann oft nicht weit.

Essen ist eine Sucht, sagt Andrea, die ihren wirklichen Namen nicht nennen kann. Andrea leidet an einer atypischen Magersucht. Das bedeutet, dass sie hin und wieder Fressattacken hat und bis zu 10.000 Kalorien auf einmal zu sich nimmt. So wie sie leiden viele Menschen an Essstörungen. Ob Esssucht, Magersucht, Bulimie, Binge Eating oder der krankhafte Zwang sich gesund zu ernähren, die sogenannte Orthorexia nervosa (griechisch: orthos= richtig, orexis= Appetit) sind die bekanntesten Formen von gestörtem Essverhalten. Alle haben sie allerdings eines gemeinsam: Den großen Leidensdruck der Betroffenen.

Auf der Internetseite von ANAD e.V. (Versorgungszentrum für Essstörungen) heißt es: Essstörungen sind ernst zu nehmende psychosomatische Erkrankungen, die durch schwere Störungen des Essverhaltens gekennzeichnet sind. Essstörungen können ernsthafte und langfristige gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Der zentrale Punkt einer Essstörung ist die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema Essen. Diese Gedankenwelt kennt Andrea nur zu gut. „Den ganzen Tag dreht sich alles nur um Essen. Das Einkaufen-Gehen ist eine absolute Herausforderung.“ Bis zu fünf Mal am Tag hat sie sich auf die Waage gestellt. „Die Waage sagt wie viel du wiegst und nicht wie viel du Wert bist. Eine Zahl darf nicht entscheiden, wie gut ich an dem Tag drauf bin“, erzählt sie. Und doch ist das so. Sich annehmen und keinen Selbsthass empfinden wäre ein großer Fortschritt. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die sozialen Kontakte werden immer weniger. „Man zieht sich zurück, weil alles irgendwie mit Essen zu tun hat. Es ist megastressig. Manche reagieren mit Unverständnis, dabei hilft gerade das einem nicht weiter“, erklärt Andrea. Heimlichtuerei stürzt die Betroffenen in noch mehr Scham und Wut über sich selbst. „Fragen und Ansprechen hilft nicht nur zur Aufklärung sondern auch dem Betroffenen“, erzählt sie. Dass Essstörungen nicht von heute auf morgen weggehen, versteht sich von selbst. Es ist ein langer Prozess. „Alles hat seine Ursache und ich glaube, dass uns jede Krankheit hilft uns besser kennenzulernen“, ist Andrea überzeugt. Auch wenn diese These für manche befremdlich klingt, ist es für die junge Frau ein Anker.

Für jeden Betroffenen ist es wichtig eine Essensstruktur zu haben, sich bewusst Gedanken zu machen, was will ich essen, worauf habe ich Lust und habe ich Hunger? „Gerade bei Fressattacken ist es wichtig, einen Sponsor zu haben. Das ist ein Mensch, den man Tag und Nacht anrufen kann und ihm in dem Augenblick von seiner Suchtstimme erzählen kann. Das sind Menschen, die selbst von einer Essstörung betroffen sind und diese Angst, wieder zu versagen und sich der Sucht hinzugeben, kennen,“ beschreibt die Allgäuerin und fügt hinzu „es ist eine Krankheit, die im Kopf beginnt. Nur die Betroffenen, die das kennen, können das auch verstehen.“

Seit kurzem gibt es in Hopfen am See ein OA-Meeting (Overeaters Anonymous), eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Essproblemen, die Andrea ins Leben gerufen hat. Jeden Montag treffen sich die Betroffenen von 19 bis 20.30 Uhr. Kommen kann jeder, auch jene, die es geschafft haben, aus dieser Sucht, wie es Andrea nennt, herauszukommen. „Jeder kann kommen und gehen wann er will. Das Wichtigste ist, sich auszutauschen und diesen Leidensdruck zu teilen. Es gibt ein paar Regeln an die man sich halten muss. Man hört zu, ohne zu unterbrechen, man benennt keine Lebensmittel, weil es Suchtdruck auslöst und zum Schluss sagt man Danke. Dann wissen die Anderen, dass man mit seiner Ausführung fertig ist.“ Die Treffen sind kostenfrei. Wer mag und kann gibt eine Spende. Mit diesen Spenden wird Informationsmaterial gekauft, vielleicht ein Referent engagiert und ein Teil wird an die Kirche für die Raummiete gespendet „Was ganz wichtig ist, ist die Anonymität und am Schluss der Satz: Gott gebe mir die Gelassenheit und gute 24 Stunden. Es ist so wie bei einem Alkoholiker. Allein der Gedanke sein Leben lang nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken erscheint am Anfang eine schier unüberbrückbare Hürde. So ist es auch bei Menschen mit Essstörungen. 24 Stunden ist ein messbarer Zeitraum und man kann sie leichter überstehen.“

INFO:
OA-Meeting
Jeden Montag von 19 bis 20.30 Uhr
in Hopfen am See
E-Mail: fuessen@oveatersanonymous.de

Formen von Essstörungen

Anorexie

Bei der Magersucht besteht der Drang, das eigene Gewicht drastisch zu reduzieren. Die Betroffenen hungern extrem, treiben übertrieben viel Sport oder verweigern sogar ganz die Nahrungsaufnahme und empfinden sich bei auffälligem Untergewicht immer noch zu dick. Es kann zu einer lebensbedrohlichen Unterernährung, zu Mangelerscheinungen und Organschäden kommen. Magersucht hat die höchste Sterblichkeitsrate der psychischen Erkrankungen (ca. zehn Prozent), meist durch Organversagen oder Suizid.

Bulimie

Bei der Ess-Brech-Sucht leiden die Betroffenen unter ex-
tremen Essattacken, bei denen sie alles wahllos in sich hineinstopfen. Um eine Gewichtszunahme zu vermeiden, erbrechen sie hinterher wieder alles oder verwenden Abführmittel. Das Gewicht der Erkrankten ist oft normal, viele leiden unter Gewichtsschwankungen. Häufige Folgen sind neben den psychischen Problemen unter anderem Zahnschäden durch die ständige Säure des Erbrochenen, Sodbrennen oder auch Herzrhythmusstörungen.

Binge-eAting-Störung

Das sogenannte Binge-Eating zeichnet sich wie die Bulimie durch extreme Essattacken und den Verlust des Sättigungsgefühls aus, allerdings ohne die zusätzlichen Kalorien wieder loszuwerden. Die Folge ist meist starkes Übergewicht und die damit verbundenen Probleme wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Erkrankungen des Skeletts, des Bewegungsapparats und natürlich der Psyche.

Zahlen und Fakten

Essstörungen Allgemein

Mehr als jedes 5. Kind in Deutschland im Alter zwischen 11 und 17 Jahren weist Symptome einer Essstörung auf – hochgerechnet rund 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche. Unter den Elfjährigen ist jedes fünfte Kind – egal ob Mädchen oder Junge – auffällig im Essverhalten. Im Laufe der Pubertät ist nur noch jeder siebte Junge gefährdet. Umgekehrt weist jedes dritte Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren Symptome einer Essstörung auf.

Magersucht

Magersucht wird häufig zwischen 12 und 23 Jahren entwickelt, wobei es die höchste Anzahl von Betroffenen zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr gibt. Nur etwa die Hälfte der an Magersucht Erkrankten kann vollständig und dauerhaft geheilt werden. Bei 20% wird das Leiden chronisch und 30% entwickeln andere Symptome wie Depressionen. Unter den Bulimikern können zwei Drittel der Erkrankten nicht geheilt werden. Das Deutsche Institut für Ernährungsmedizin und Diätetik (DIET) gab an, dass bis zu 15 % der Magersüchtigen an den Folgen der Erkrankung sterben. Laut der Studie der Universität Heidelberg stirbt jede sechste schwer erkrankte Magersüchtige an den Folgen dieser Krankheit. Die Universität Ulm berichtete, dass mit einer Sterblichkeitsrate von 15 bis 20 Prozent die Anorexie mehr Opfer als jede andere psychiatrische oder psychosomatische Störung fordert.

Bulimie

600.000 Frauen und Männer leiden an der Fress-Brech-Sucht (Bulimia nervosa). Die Universität Ulm beziffert die Häufigkeit in der weiblichen Bevölkerung zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr für Anorexie mit 0,5 – 1%, für Bulimie mit 3 – 4% und für Esssucht mit 6% und verzeichnet einen zunehmenden Anteil männlicher Betroffener. Die Neuerkrankungsrate von Frauen liegt zwischen 0,5 und 1%. An Bulimie leiden meist Personen zwischen 20 und 30 Jahren. Von ihnen haben 60% Abitur, also einen hohen Bildungsgrad.

Binge Eating Disorder

Binge-Eaters erkranken oft um das 20. Lebensjahr. Dennoch können die Erkrankungen auch noch deutlich später auftreten.

Adipositas

Frauen mit geringem beruflichen Status und geringem Einkommen sind besonders oft adipös – was zeigt, dass Übergewicht auch ein soziales Problem ist. Eine repräsentative Untersuchung in der deutschen Bevölkerung zeigt, dass Vorurteile gegen übergewichtige und adipöse Menschen stark verbreitet sind: 85% der Befragten gaben an, Adipöse seien im Wesentlichen selbst für ihr starkes Übergewicht verantwortlich, da sie sich einfach zu wenig bewegen und zu viel essen

Hilfe und Therapien

Wer nicht weiter weiß, sollte sich unbedingt Hilfe suchen. Beispielsweise unterhält die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein Beratungstelefon, das sieben Tage die Woche erreichbar ist (Webadressen siehe unten). Zu einer der wichtigsten Anlaufstellen zum Thema Essstörungen hat sich die 1984 gegründete Selbsthilfeorganisation ANAD e.V. aus München entwickelt. Geschulte Mitarbeiter stehen für telefonische oder Online-Beratung zur Verfügung, und auf der Website finden sich Informationen speziell für Jugendliche, Eltern oder Partner von Menschen mit Essstörungen. Kontaktadressen von Beratungsstellen, Kliniken und Therapeuten aus dem ganzen Bundesgebiet listet die Website des Bundes Fachverband Essstörungen e.V. auf.

Die Broschüre »Essstörungen … was ist das?« können Sie kostenfrei bestellen unter:
www.bzga.de/infomaterialien/ernaehrung-bewegung-stressbewaeltigung/ess-stoerungen-was-ist-das/

Weitere Infos unter:
www.bzga-essstoerungen.de
www.anad.de
www.bundesfachverbandessstoerungen.de

Text: Sabina Riegger · Bild: Fotolia

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