
Vor dem Regal
Warm eingepackt laufe ich durch die Straßen. Vollgepackt mit Einkäufen merke ich, wie mir die erste Schweißperle unter meiner Mütze über die Stirn läuft und mein Nacken allmählich mit dem Jackenkragen verschmilzt. Und das bei einer Temperatur knapp über null. Eigentlich predige ich immer das Zwiebelprinzip, nur setze ich es selbst nicht um. Aber vielleicht musste es so kommen. Vielleicht musste ich einmal richtig schwitzen, um mich auch endlich selbst so anzuziehen – Schicht für Schicht.
Ich bin auf dem Weg zu einem Künstler-Bedarfsgeschäft, in dem ich gleich zwei Kolleginnen treffen werde. Zwar leider nicht physisch, dafür aber via Videocall. Es steht ein gemeinsames Projekt an, für das wir noch Materialien benötigen. Und da zwischen uns mehrere hundert Kilometer liegen, frisst der Teufel in der Not Fliegen. In meinem Fall bedeutet das: schweißgebadet einen Eiertanz zwischen Gouache, Leinwänden und Rohton machen, um die Verbindung unseres Video-Meetings aufrechtzuerhalten und gleichzeitig diverse Produkte mit der Kamera zu filmen, um sie einstimmig absegnen zu lassen.
Aus meinem Augenwinkel sehe ich in der nächsten Abteilung ein rotes Samtsofa stehen. In Gedanken sitze ich schon darauf und sinke langsam darin ein.
Aber noch ist es nicht so weit…
„Zeig mal das Papier da oben!“
Ich weiß nicht, welches gemeint ist, denn das große Holzregal, vor dem ich gerade stehe, ist gefühlt hundert Meter hoch und mindestens genauso breit. Und dementsprechend viele Fächer hat es, in denen die unterschiedlichsten Papiere lagern. Noch bevor ich fragen kann, welches Papier sie meinen, reißt der Empfang ab. Das Video stockt, und mein Telefon gibt unangenehm hohe Pieptöne von sich, als wüsste ich nicht, dass ich in einem Funkloch stehe. Das Geräusch setzt mich unter Druck.
Stillschweigend stehe ich da, vor dem Regal, als mich eine ältere Dame streift. Zielsicher greift sie in das Regal und zieht zwei gelbe Bögen Tonpapier aus dem Fach. Sie dreht sich um, sieht mich an, bleibt stehen und greift kräftig nach meinem Jackenkragen. „Komma näher bei die Omma“, sagt sie und zieht mich selbstbewusst in ihre Richtung.
Ein bisschen fühle ich mich wie der schmierige Kerl in einem Low Budget-Kinofilm, der von seinem (mindestens genauso schmierigen und zwielichtigen) Schwiegervater in spe am Kragen gepackt wird, um gleich die bedrohlichste Ansprache seines Lebens zu kassieren.
Aber ich höre nur ein gut gemeintes „Mach et aus und lass et krachen…“
Ehe ich antworten kann, geht sie weiter und tätschelt mir dabei wohlwollend auf den Arm.
Ich glaube, das war einer dieser seltenen Momente im Leben, bei denen man nur darauf wartet, dass ein verstecktes Kamerateam aus der Ecke springt und einem die Kamera in das verdutzte Gesicht hält.
Aber da kam keine Kamera.
Ich glaube, ich habe mich selten so frei und gut gefühlt wie in diesem Moment.
Das Handy habe ich ausgemacht, das Sofa war gemütlicher als ich es mir vorstellen konnte und ihr Ratschlag war tiefgründiger als man meinen könnte…



