Kolumne

Ein Blick

Als ich das erste Mal Fotografien von Leon Levinstein sah, konnte ich nachfühlen, was er fühlte, als er durch die Linse seiner Kamera sah und abdrückte.

Es waren nicht nur Fotos, die er auf den Straßen New Yorks machte, es waren Menschen und deren Geschichten, die von ihren Emotionen getragen wurden. Er wartete nicht einfach auf den richtigen Moment, er sah ihn und hielt ihn für immer fest.

Fotografien sind ein Stück Vergangenheit, in die wir zurückkehren können. Durch sie betreten wir einen Raum zwischen den Zeiten. Und manchmal fühlt es sich an, als wäre das die Unendlichkeit.

Aber gleichzeitig ist dieser Zustand auch so zerbrechlich und fast schon fragil. Aber auf eine kostbare Art und Weise.
Manchmal ist es wie ein Mahnmal, manchmal ist es reines Glück. Manchmal ist es ein Neubeginn und manchmal ein Abschied.

Fotografien sind wie Brücken. Sie verbinden Menschen, und manchmal genügt ein einziger Blick, um zu verstehen, zu fühlen, zu hinterfragen.

Jedes Jahr, jeden Monat, ja, jeden Tag mache ich Fotos und fange Gefühle, Orte, Menschen und Situationen ein. Ich halte die Welt, wie ich sie wahrnehme, fest. Inzwischen sind es Zehntausende Bilder. Diese Bilder dann später anzuschauen und wieder einzutauchen in das Vergangene, erdet mich wie kaum etwas anderes.

Neulich habe ich überlegt, welche Erinnerungen aus meiner Kindheit sich manifestiert haben. Und eigentlich musste ich nicht lange überlegen, weil ich gleich die große Leinwand vor Augen hatte, das verdunkelte Wohnzimmer und den Diaprojektor auf dem Holztisch, der mit Büchern in die richtige Position gestützt werden musste, bevor die Bilder auf der Leinwand erschienen.

Vielleicht ist es mit Fotos so, wie mit allem anderen im Leben auch: Der Kreis schließt sich immer.
Ich muss an eines meiner Lieblingsbilder denken. Ich bin vielleicht vier. Da sitze ich in einem lilafarbenen Badeanzug, mit blauen Flossen und einer blauschwarzen Taucherbrille auf der Stirn am Meeresufer und schaue ins Wasser.

Inzwischen sind 30 Jahre vergangen. Vieles hat sich geändert und entwickelt. Aber immer wenn ich am Meer bin, denke ich an dieses Bild zurück. Wenn ich mit der Taucherbrille auf dem Kopf auf die Weite des Meeres schaue, dann ist es, als wäre ich in Wahrheit nur ganz kurz weg gewesen…

Ich fotografiere die ganze Zeit – es ist eine Art, am Leben zu sein und verbunden zu sein.

Harry Gruyaert

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