
Eins für alle Fälle
Ich sitze im Wartebereich des Autohauses. Das Laufrad des Ventilators summt und wirbelt mir die warme Luft entgegen. Ich wünschte, die Brise wäre wenigstens ein bisschen kühler.
Auf dem Tisch liegt eine kleine Porzellanschale mit Fruchtbonbons, eingewickelt in farbiges Papier. Mir sitzt ein Herr gegenüber, der offenbar noch mehr schwitzt als ich. Aus der Brusttasche seines weißen Hemdes zieht er ein Stofftaschentuch, mit dem er sich behutsam die Schweißperlen von der Stirn tupft.
Sein Blick fällt auf die bunt gefüllte Schale. Er greift zu. Ich kann mir vorstellen, dass diese klebrig-milchigen Kaubonbons ihm zu keiner Erfrischung verhelfen werden. Ich fühle mit ihm und schiebe den Ventilator näher in seine Richtung. Er dankt es mir mit einem herzlichen Lächeln.
Wir beide sitzen da, in der stickigen Ecke, zwischen Werbekatalogen, Autopflegeprodukten und Werbetafeln für Serviceleistungen und hören dem Radiomoderator zu, wie er die aktuellen Staumeldungen fehlerfrei und mit seriöser Stimmlage verliest, bevor er dann stimmungstechnisch in Fahrt kommt: „Und gleich und nur hier bei uns ein echter Klassiker, ein echter Stimmungsmacher für Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, an diesem heißen Dienstagvormittag…“ Er hat sich für Cyndi Lauper entschieden. „Girls just want to have fun“, singt sie. Und selten habe ich einen Refrain so sehr gefühlt wie in diesem Moment.
Bei fast 250.000 gefahrenen Kilometern fällt einem jede Abweichung und jede Veränderung am eigenen Auto sofort auf. Deswegen sitze ich jetzt auch hier und höre Klassiker aus den Achtzigern, schwitze und hoffe, dass die Geräusche und das starre Fahrgefühl nichts Ernstes sein werden.
Unser Auto hat uns verlässlich bei gemütlichen 110 PS an so viele wunderschöne Orte gebracht. Etwa nach Schweden und Dänemark, an die Ost- und Nordseeküste, nach Südfrankreich, ins tschechische Hinterland, nach Amsterdam, Prag, Köln und Straßburg, nach Hamburg und Brandenburg, an die Mecklenburgische Seenplatte, nach Wien und auf gefühlt jede kroatische Insel. Zu Terminen und Einkäufen, zu Umzügen und Feiern.
Ja, ich hänge an diesem Auto. Meine Gedanken kreisen rhythmisch zum Ventilator mit. Und dann, endlich, sehe ich den Mechaniker aus der Werkstatt kommen. Mit schnellem Schritt, grauem Klemmbrett unter dem Arm und einem Kugelschreiber hinter dem Ohr wirkt er auf mich, als wäre er dem Problem systematisch auf die Spur gekommen. Ich hoffe das Beste.
Aber sein Blick verheißt nichts Gutes. Er presst seine Lippen aufeinander und zwinkert mir mit geneigtem Kopf mitfühlend zu. Nach einem kurzen Austausch an Höflichkeiten zückt er seinen Kugelschreiber und das Klemmbrett und beginnt mit einem sehr gedehnt gesprochenem “Aaallllssooooo”:
Die Feder vorne: Gebrochen.
Kupplung: Kaputt.
Bremsbeläge: Abgefahren.
Reifen: Runter.
Kosten: Dreitausend Euro, eher vier.
Und: Auf keinen Fall weiter investieren, lieber das Auto verkaufen. Jetzt ist es der Herr, der mit mir fühlt. Angespannt greift er nach weiteren Bonbons. Und ich hinterher.
Ich drücke auf den klebrigen Quadraten herum und überlege nach einer sinnvollen Antwort: „Girls just want to have fun“, und deswegen brauche ich dieses Auto – solange es fährt…



