Kolumne

Aufgeweckt

Es herrscht tiefe Stille. Es ist so, als würde alles für einen kurzen Moment pausieren. Und auf einmal nehme ich die leisesten Geräusche um mich herum wahr. Es ist früher Nachmittag und draußen hängen schwere, dunkle Wolken am Himmel. Ich höre das leise Summen des Getränkeautomaten und die nasale Atmung des Mannes, der ein paar Stühle weiter sitzt. Das Licht im Flur flackert.

Der Mann auf dem Stuhl ist eingeschlafen. Sein Kopf liegt seitlich auf der Schulter, seine Arme ruhen verschränkt auf seinem Bauch. Dass er da drüben sitzt und leise vor sich her schnarcht, beruhigt mich. Ich bin nicht alleine in diesem trostlosen Flur.
Ein bisschen sieht er aus wie Tom Selleck. Nur mit lichterem Haar und formellen Leder-Loafers samt angenähten Quasten vorne drauf.

Auf eine gewisse Weise ist mir der Mann sympathisch, obwohl wir noch kein einziges Wort miteinander gesprochen haben. Am Ende des Flurs ist ein großes Fenster. Der Baum klatscht die Äste dagegen. Ein Gewitter zieht auf.

Der Mann streckt seine Beine in die Länge und legt das linke Bein auf das rechte auf. Er schläft tief und fest. Noch immer. Es scheint, als wären wir hier vergessen worden. Wir und das dämmrige Licht, der Getränkeautomat und die dunkelbraunen Stühle, die an der Flurwand entlang stehen. Ich starre den Getränkeautomaten an. Dieser Automat, dieser Flur, einfach alles hier, sind die müden Überreste vergangener Zeiten, mit orangenen Lamellenvorhängen und kratziger Auslegware in dunkelgrün und einer hängenden Grünlilie auf dem Fensterbrett. Am Automaten gibt es Instant-Gemüsebrühe to go. Ich muss an meine Schulzeit denken. Da gab es einen ähnlichen Automaten, der alle in zwei Lager teilte. Die einen tranken übelriechende Gemüsebrühe, die anderen Schokoladenkaffee.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, das Telefon des Mannes klingelt. Er ist wach und kramt in seiner Hosentasche. Sein Klingelton, eine schnelle Variante der „Vier Jahreszeiten“, hallt den Flur entlang. Noch bevor er abheben kann, verstummt Vivaldi wieder.

Er sieht zu mir rüber, streicht seinen Schnauzer zurecht, nickt und lächelt mir zu. „Ganz schön langweilig hier“, sagt er. Ja, er ist mir wirklich sympathisch. Er greift nach dem Umschlag neben sich, steht auf und kommt lächelnd auf mich zu: „Keinen Grund zum Bleiben zu haben, ist ein guter Grund zu gehen!“

Er sieht aus wie eine Filmlegende, schnarcht wie ein erkältetes Kind, spricht weise wie Robert Burns und verschwindet am anderen Ende des Flurs.

Es ist Montagnachmittag, und erst jetzt bin ich wach.

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