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„… so dass Afrika sich selber helfen kann“

Wie kommen ein Medizinstudent und eine junge Auszubildende zur Medizinisch-Technischen Assistentin (MTA) dazu, ihre Reputation und einen sicheren Arbeitsplatz mit gutem Gehalt für den schier aussichtslosen Kampf gegen endemische Krankheiten in Afrika einzutauschen? Schwer zu sagen. Viele Faktoren trugen wohl dazu bei. Blinder Aktionismus allerdings, das war es gewiss nicht. Maria und Peter Stingl begannen in den 1970er Jahren ihr tropenmedizinisches Engagement in West- und Ostafrika.

Die berufliche Biografie des Ehepaars ist geprägt vom Kampf gegen die großen, meist armutsassoziierten Infektionskrankheiten dieser Welt. Der außergewöhnliche Einsatz der Stingls begann mehr oder weniger in der St. Vinzenz Klinik in Pfronten und fand seine Zentrale in der Gemeinde Steingaden, aus der das Ehepaar ihre Arbeit noch heute ideell und finanziell unterstützt.

Dr. Peter Stingl bei einer Reihenuntersuchung.

Doch eins nach dem anderen. Die Eheleute Stingl wurden erstmals vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf nach Afrika geschickt. Ein Tropendermatologe suchte damals einen Doktoranden, um in Äthiopien über die Lepra zu forschen. So flogen Peter und Maria Stingl 1969 in die Fremde, um den Hamburger Professor im Kampf gegen die Infektionskrankheit zu unterstützen.

„Wir sind in die Lepra-Arbeit in einem großen Leprazentrum in der Hauptstadt Addis Abeba eingestiegen. Dort konnte ich zudem meine wissenschaftlichen Studien durchführen“, erzählt Prof. Dr. Stingl. Sie kamen zurück nach Deutschland, er studierte weiter, schrieb sein Staatsexamen und absolvierte die vorgeschriebene Zeit als Assistenzarzt.

Doch was die beiden in Afrika erlebt hatten, ließ sie nicht mehr los: „Wir waren mit dem Verelendungsprozess eines ganzen Volkes konfrontiert und haben uns geschämt beim Anblick dieser Not und der desaströsen Gesundheitslage.“ Gemeinsam fassten sie schon damals den Entschluss, zurückzukehren und ihre Berufskenntnisse dort einzusetzen, wo es die Menschen am nötigsten haben: in Afrika, wo zu dieser Zeit die meisten Menschen in Armut, Unwissenheit und sehr oft auch Aberglauben gefangen waren. Für diesen Einsatz durfte sich das junge Paar an der äußerst renommierten „London School of Tropical Medicine“ ausbilden lassen.

Um eine kleine Vorausschau zu geben: über die folgenden Jahrzehnte führten zahlreiche Einsätze den Tropenarzt und seine Frau von Äthiopien nach Sierra Leone, in den Sudan und nach Malawi. Sie waren in Tansania, Togo, Sansibar, an der Elfenbeinküste und auf den Kapverdischen Inseln. Auch im südamerikanischen Kolumbien, in Rumänien und in den USA konnten beide mit ihrem Wissen und Engagement punkten.

Maria Stingl mit einheimischen Kindern.

Maria Stingl war als MTA auf die Labortechnik von Tropenkrankheiten spezialisiert. Peter Stingl machte in London das Diplom für Tropenmedizin und Epidemiologie. „Nachdem wir das hatten und damit so viel Wissen auf dem Gebiet, hat es uns natürlich noch viel mehr rausgedrängt“, berichtet er schmunzelnd. Mit einer weiteren Zusatzausbildung in der Leprologie begann das Engagement des Paares in Sierra Leone. Stingl startete mit seiner Frau eine landesweite Leprabekämpfungsstrategie.

Ein Novum: „Das war das erste Mal, dass man die Lepra auch behandeln konnte. Dazu waren wir mit die allerersten, die nach Afrika kamen und sich zur Aufgabe machten, neben der Lepra sich mit teils tausende Jahre existierenden Tropenkrankheiten zu beschäftigen.“ Helfer gewannen die Stingls, indem sie junge einheimische Männer ausbildeten. „Wir hatten 72 Mitarbeiter“, berichtet der Tropenarzt. Die waren auch vonnöten: Landesweit wurden damals rund 10.000 Leprafälle registriert.

Im Süden, wo die beiden arbeiteten, waren es gut 4.000. „Wir benötigten unbedingt ein Leprakrankenhaus“, erwähnt Maria Stingl ein damit einhergehendes Projekt. Um schwere Fälle behandeln zu können, ließen sie ein Hospital nahe der Hauptstadt Freetown ausbauen und herrichten. 30 Betten zählte die kleine Klinik namens Lakka Leprosy Centre und fungierte zudem als Zentrale für Statistik und Evaluierung. Allen Querelen und dem späteren, blutigen Bürgerkrieg zum Trotz existiert das Leprakrankenhaus noch heute.

Die Stingls erzielten in den folgenden Jahren große Erfolge in der Bekämpfung von Lepra. Die bis in das 20. Jahrhundert als unheilbar geltende Infektionskrankheit konnte landesweit um gut 70 Prozent gesenkt werden. Nicht zu vergessen: Die Behandelten konnten die Infektion auch nicht mehr weiterverbreiten! Mehr als vier Jahre lebte das junge Ehepaar in dem kleinen westafrikanischen Land . Dort kam auch ihr Sohn zur Welt. In Deutschland verbrachte der Arzt ein Jahr an der Universitätshautklinik in Ulm, um mehr Erfahrung in der Dermatologie zu bekommen.

Erneut führte ihn sein Weg anschließend in die Klinik in Pfronten und in den Bereich der Inneren Medizin. Die Stingls fanden ein Haus in Steingaden und die Möglichkeit sich niederzulassen. Doch das kam vorerst nicht in Frage. Die Tatsache, dass damals sieben von zehn Menschen in der Dritten Welt keinen Zugang zu moderner Medizin hatten, machte das Ehepaar ruhelos. Ihre Tropenerfahrung führte sie daraufhin in den Sudan, ein Land der mehrfachen Größe Deutschlands. Ihr Auftrag: Aufbau eines Nationalen medizinischen Ausbildungszentrums. Maria Stingl installierte und leitete das Zentrallabor, wo ihr Mann ein erstes Ausbildungsprogramm für sudanesisches Gesundheitspersonal initiierte. Von zentraler Bedeutung für sie war es immer, in Menschen zu investieren, Einheimische auszubilden und praktisch anzuleiten. So dass Afrika sich selber helfen kann.

Professor Stingl (Mitte) mit seinen afrikanischen Studenten.

Im Sudan widmete sich der Tropenarzt der Erforschung einer weit verbreiteten, bis dahin nicht beachteten Krankheit, der Onchozerkose. Mit einem Doktoranden der LMU München begann Stingl eine großräumige Studie bei Bewohnern entlang der Zuflüsse zum weißen Nil, in deren Wasser die krankheitsübertragenden Kriebelmücken brüten. Das Ausmaß war überwältigend. Er entdeckte einen der weltweit größten hyperendemischen Onchozerkoseherde.

„Im tropischen Afrika waren damals gut 40 Millionen Menschen davon befallen, aber wir zählten zu den allerersten, die diese Krankheit von ihrer Verbreitung über die Entstehungsmechanismen , der Körperschäden bis zu Möglichkeiten ihrer Bekämpfung studierten.“ – Einer Krankheit, die zu schweren Hautschäden, Erblindung und Invalidität führt! Es waren die Stingls, die daraufhin eine den armen Regionen angepasste Diagnostikmethode entwickelten.

Die wissenschaftlichen Studien Dr. Stingls führten schließlich zu seiner Habilitation und späteren Professur an der LMU München. 17 Jahre lang lehrte er dort und in Tansania Tropenmedizin und globale Gesundheit. – Neben der eigenen Praxis in Steingaden und Berater- und Lehrtätigkeiten für internationale Organisationen. Maria und Peter Stingl publizierten weit über 100 Fachartikel. Daneben schrieb der Tropenarzt mehrere deutsche und englische Lehrbücher mit. Mit Vorträgen und Wanderausstellungen informierten die beiden vielerorts über die Notlage der Menschen in der Dritten Welt, waren 1996 Mitgründer der internationalen Kinderrechtsorganisation „KIRA e.V.“ und initiierten und verwalteten einen Afrika-Fond. Damit aber seien nur einige Beispiele ihres unermüdlichen Einsatzes genannt.

Alles, was sie für Afrika erreicht haben, haben Maria und Peter Stingl gemeinsam erreicht. „Wir sind sehr froh, an der Gesundheitsförderung Afrikas teilgenommen zu haben. Wir dürfen uns Zeugen atemberaubender Durchbrüche nennen: die Kindersterblichkeit sank signifikant. Viele der Millionen befallende Tropenkrankheiten sind unter Kontrolle, einige fast ausgerottet. Stellen Sie sich vor, ein heute geborener Afrikaner wird wahrscheinlich 30 Jahre älter als seine Großeltern.“

Dennoch blicken sie nicht ohne Sorge auf diesen Kontinent: „Eine neue Bürde bedroht Afrika. Nachholen und Nachahmen unseres Lebensstils führt zu einer dramatischen Zunahme der Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs. Und auf diese komplexe Krankheitsmuster ist kein afrikanisches Land vorbereitet.“

Text Selma Hegenbarth · Fotos: privat, Selma Hegenbarth (1)

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