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Die Flucht aus der Ukraine

“Wir wollen hier keine Sozialleistungen beziehen”

Mir ist ehrlich gesagt etwas mulmig, als ich mich auf den Weg mache, um Menschen zu treffen, die erst vor kurzem aus ihrem Heimatland fliehen mussten, weil dort ein furchtbarer Krieg tobt. Gespannt auf das, was sie mir erzählen werden, bin ich nicht wirklich. Eine gewisse Anspannung in mir spüre ich aber dennoch. Hatte ich doch, wie viele andere auf dieser Welt, immer gehofft, dass ich mich niemals mit dem Thema Krieg so intensiv befassen müsste. Mir fehlt die tatsächliche Vorstellungskraft dessen, was sich wenige Flugstunden weiter östlich ereignet, obwohl ich die Bilder dazu jeden Tag im Fernsehen serviert bekomme. Als ich die drei Frauen kennenlerne, scheint es mir auch irgendwie, als wären wir wegen etwas ganz anderem hier. Sie wirken mir gegenüber sehr sympathisch, begrüßen mich freundlich mit einem Lächeln im Gesicht. Von dem, was sie durchmachen mussten, und dem, was ihr Leben innerhalb kürzester Zeit komplett verändert hat, ahne ich anfangs noch nichts.

Der Weg aus dem Land

Hilfe bei der Verständigung bekomme ich von der 19-jährigen Emma, die im benachbarten Kempten zweisprachig aufgewachsen ist. Die Ukraine, wo sie sich etwa die Hälfte des Jahres aufhält, hat sie gleich einen Tag nach Kriegsbeginn verlassen. Gut zwei Tage war sie unterwegs, raus aus Kiew, über Polen nach Deutschland, wo sie in München von ihrer Mutter abgeholt wurde. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich mit 19 Jahren solche Erfahrungen machen würde“, sagt sie, obwohl von dem militärischen Geschehen und Angriffen zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viel berichtet wurde. Wesentlich komplizierter war der Weg für die beiden Freundinnen Vika und Valeria, die mit ihren Töchtern erst zwei Wochen später das Land verließen, als die Angriffe auf ihre Heimatstadt Charkiw schon mehrere Tage in vollem Gange waren. Sechs Tage und Nächte lang hatten sie zuerst im Keller ihres Hauses ausgeharrt, bis sie sich dann doch dazu entschieden, zusammen mit anderen Bürgern in einem Autokonvoi früh morgens die Flucht aus dem Land anzutreten. „Wir hatten große Angst“, erzählen die beiden. „Denn es wurde erzählt, dass auch Autos von den russischen Soldaten beschossen wurden. Dort bleiben wollten wir aber auch nicht.“

Dass es die richtige Entscheidung war, wussten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn kurz darauf wurde das gesamte Wohnviertel bombardiert. Zum erhofften Schutz des Konvois hatten sie in weißer Farbe das Wort „Kinder“ auf die Autos geschrieben. Vika ist 34 Jahre alt und im normalen Leben Fachkraft für Lebensmitteltechnik. Zusammen mit ihrem Ehemann hat sie erst vor zwei Jahren eine neue Wohnung erworben. „Alles hat gepasst. Wir haben ein neues Auto gekauft und viele Pläne gehabt“, erzählt sie. Das gleiche Schicksal teilt auch die 30-jährige Valeria. Die Schullehrerin für Musik musste unter anderem auch ihre Großmutter zurücklassen. „Sie wollte einfach nicht weg“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Ich telefoniere aber jeden Tag mit ihr, solange das noch möglich ist.“ Russisches Militär direkt vor Augen hatten die Frauen auf ihrem Weg nicht. Von den am Horizont entfernt zu sehenden Raketen- und Bombeneinschlägen haben sie aber zahlreiche Fotos und Videos gemacht, die sie mir zeigen.

In Sicherheit

Erst vor wenigen Tagen haben es Viktoria und ihre Tochter geschafft, Charkiw zu verlassen. Die 43-Jährige ist eigentlich Mode-Designerin, betreibt sogar ihr eigenes Label in der Ukraine. „Wir haben zuerst gar nicht geglaubt, was da passiert“, sagt sie. „Auch haben wir gehofft, dass das alles schnell wieder aufhört. Wir hatten Angst, dort zu bleiben, aber auch Angst, wegzugehen. Als sie dann angefangen haben, Wohngebiete zu beschießen, wussten wir, es ist vielleicht die letzte Chance rauszukommen. Realisiert habe ich das alles bis heute noch nicht. Ich denke immer noch, dass ich ein Zuhause habe. Das ist aber jetzt alles zerstört.“ So ging es per Zug für sie von einer größeren Stadt zur nächsten. Da die Züge, die ohnehin schon bis auf die Dächer gefüllt waren, aber nicht immer gefahren sind, kam es immer wieder zu mehrstündigen Wartezeiten. Knappe vier Tage waren Mutter und Tochter unterwegs, bis sie schließlich hier im Allgäu angekommen sind. In Sicherheit.

Alle drei sind verheiratet, mussten die Flucht aber ohne ihre Ehemänner antreten. Vikas Mann arbeitete als TV-Schauspieler, Valerias Gatte war Elektronischer Ingenieur eines Raumfahrtunternehmens und Viktorias Mann Manager bei einem britischen Zigarettenhersteller. Nun kämpfen sie in ihrer Heimat um ihr Land und ihre Freiheit. Bisher gab es keine Probleme, die Verbindungen zu ihnen ein- oder zweimal am Tag herzustellen, um miteinander zu sprechen. Es ist der einzige Kontakt, der den Frauen soweit geblieben ist. Mitnehmen in ihre ungewisse Zukunft konnten sie im Grunde nur das, was sie am Leib tragen konnten, neben ihrer Kleidung also ein paar wenige Dokumente und Papiere. Zurücklassen mussten sie so gut wie alles andere, was sie besitzen. Zu den persönlichen Verlusten zählen für Viktoria auch Teile ihrer Familie, die im benachbarten Russland leben. Wie ihre sind auch viele andere Familien an den unterschiedlichen Vorstellungen und Ideologien der beiden Völker und deren Staatsoberhäupter zerfallen. Direkte Gespräche sind oft nicht mehr möglich, weil beide Seiten völlig andere Interessen vertreten, ob aus innerer, eigener Überzeugung oder als Resultat einer funktionierenden Propaganda.

Räuber sind gekommen

Untergekommen sind die drei Frauen mit ihren Kindern nun vorerst bei Beatrice Pineda, die mit ihrem Mann das Hotel Sonne im Füssener Zentrum betreibt. Der Kontakt entstand über ein Telefonat mit einem Bekannten in der Schweiz, der sich in der Unterstützung der Flüchtlinge engagiert. Zusammen mit Beatriz’s Tochter besuchen die Kinder nun auch schon die Schule in Füssen. „Der Krieg hat ihnen sehr viel Angst gemacht. Etwa dann, wenn die Sirenen wieder losheulten und sie wussten, dass alle in den Keller müssen. Richtig verstehen, was dort passiert, können sie aber nicht. Ich habe meiner Tochter, die jetzt viereinhalb ist, erzählt, dass Räuber gekommen sind und uns die Guten dann befreit hätten“, sagt Viktoria. Von der Hilfe und dem Engagement der Menschen hier zeigen sie sich überwältigt und sehr dankbar. Bis sie irgendwann wieder in ihr Land zurück gehen können, wollen sie einem geregelten Leben nachgehen, betonen sie. „Wir wollen hier keine Sozialleistungen beziehen“, erklärt Valeria. „Wir möchten gerne arbeiten, bis wir dann in unsere Heimat zurückkönnen. Hoffentlich sehr bald.“

Text · Foto: Lars Peter Schwarz

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