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Tradition ist das Weitergeben einer Flamme

Es ist eines der ältesten Geschäfte in Füssen, das Handarbeitsgeschäft-Bruggesser in der Hutergasse in Füssen. Dieses Jahr feiert das schöne Fachgeschäft sein 95-jähriges Bestehen. Für Dorothea Jesdinszki bedeutet dieser Geburtstag einen neuen Lebensabschnitt, der mit mehr Freizeit, Kultur und all dem, was Spaß macht, gefüllt ist. Nach fast 46 Jahren übergibt sie ihr Geschäft.

Lange Zeit hat sie überlegt, ob sie diesen Schritt gehen soll. „Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, wo man weiß, dass es der richtige ist“, so Dorothea Jesdinszki. Genauso wie sie weiß, dass Eva Keller die Richtige für ihr Handarbeitsgeschäft ist. Schließlich übergibt sie nicht irgendetwas, sondern ein Stück gelebte Geschichte und Tradition. Denn ein Teil dieser besonderen Geschichte hat sie mitgeprägt, deswegen versteht sie die Tradition nicht als das Aufbewahren von Asche, sondern das Weitergeben einer Flamme. Als sie mit 54 Jahren das Geschäft von ihrer Schwester Renate übernahm, war sie schon 34 Jahre dort. „Es ist eine sehr lange Zeit, die ich hier verbringen durfte. Für mich war das mein absoluter Lebensmittelpunkt, eine Herausforderung und ganz zu schweigen von den vielen positiven Emotionen, die ich hier erlebt habe“, sagt die heute 65-Jährige. Ihre Kunden kamen aus ganz Deutschland. „Gefühlt habe ich fast die Hälfte der Frauen, die hier bei uns auf den Campingplätzen Urlaub machten, gekannt“, lacht sie. Viele von ihnen wurden gute Bekannte, manche Freunde, zu denen sie heute noch Kontakt hält. Dass die Geschäftsfrau mal unsicher gewesen sein könnte, kann man sich heute nicht vorstellen. „Das Geschäft machte mich mutiger, um selbstsicherer aufzutreten“, erinnert sie sich zurück. „Schon als Schülerin half ich meiner Schwester Renate in den Ferien in ihrem Handarbeitsgeschäft, was mir viel Spaß machte. Der Schutz der Theke half mir, meine Schüchternheit und Menschenangst zu überwinden; und als ich nach der Schulzeit das Mode-Studium Sozialpädagogik begonnen hatte, merkte ich schnell: das ist nicht mein Ding! Also arbeitete ich 34 Jahre bei Renate, und als sie mir dann den Laden anbot, hatte ich genug Mut und Selbstvertrauen gesammelt, mich dieser Aufgabe gewachsen zu fühlen.“ Das war 2009, genauer gesagt am 2. Mai. Gemeinsam mit ihrem Sohn und Freunden feierte sie ihre Selbstständigkeit, die sie keinen einzigen Tag bereute. „Ich habe gelernt, nicht alles können zu müssen und Hilfe anzunehmen. Jeder Tag ist so anders und die Arbeiten so vielfältig“, erzählt die gebürtige Schongauerin. Mit allen Mitarbeiterinnen, die ihr in ihrem kleinen Laden halfen, hat sie immer noch einen guten Kontakt. „Es waren unbeschwerte Zeiten. Dafür bin ich dankbar“, sagt sie.

Wer schon einmal „Beim Bruggesser“ war, versteht warum das Handarbeitsgeschäft diese Besonderheit versprüht, diese Ruhe und angenehme Atmosphäre, als wäre man zu Hause. Auf der einen Seite sind es die vielen bunten Wollknäuel, die eine Wärme ausstrahlen, und auf der anderen Seite ist es die kleine Sitzecke mit dem weißen Tisch. Am liebsten möchte man sich dort hinsetzen und beobachten, wer hier ein- und ausgeht. Menschen, die so verschieden sind wie die Wolle in den Fächern. Dorothea Jesdinszki lacht über diesen Wunsch, weil sie ihn gut verstehen kann. „Es ist wirklich ein besonderer Platz, mein ganz persönlicher“, sagt sie. Hier trinkt sie ihren Kaffee, den sie sich aus dem Weltladen um die Ecke holt und dazu einen italienischen Nougat isst. Ob sie das vermissen wird? „Natürlich, weil es liebgewonnene Angewohnheiten sind.“ Hier traf sie die Bäuerin, die Akademikerin, Handwerkerin, Oma, Hausfrau und Mutter, die alle die gleiche Leidenschaft hatten wie sie: Handarbeiten, um der eigenen Kreativität Ausdruck zu verleihen. Im Laufe der Zeit sah sie teils richtige Kunstwerke, die aus Masche und Wolle entstanden sind oder gestickt wurden. Das hat sie fasziniert. Dorothea Jesdinszki ist noch bis zum 30. Juni im Handarbeitsgeschäft.

Text · Foto: Sabina Riegger

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