Kolumne

Pierre aus Nimes

Wir sind in Bosnien, ungefähr 130 Kilometer entfernt von Sarajevo, auf einem kleinen Campingplatz am Fluss. Neben uns steht Pierre aus Nîmes mit seinem alten Citroën- Kastenwagen. Pierre ist auf dem Weg nach Montenegro und legt, wie wir, hier einen Zwischenstopp ein.

Pierre’s Citroën steckt jedes Wimmelbuch locker in die Tasche: Es gibt viel zu sehen. Es ist bunt, von allem viel, kreuz und quer, eng und irgendwie schreit es beim bloßen Anschauen nach Reizüberflutung.

Aber das Auto passt zu Pierre wie Yoko zu John und Hippies zu Woodstock.

Pierre ist Mitte 50, eher klein, er hat dunkelblond- graumelierte wellige Haare bis zum Kinn und anstatt T-Shirt trägt er lockiges Brusthaar und davon nicht zu knapp.

Pierre ist ein offener Typ. Er redet gern schnell und gern viel. Er wirkt tiefenentspannt und furchtlos zugleich. Ein bisschen wäre ich gerne wie er. Zum Beispiel gerade jetzt.

Ich liege auf der Rückbank unseres 30 Jahre alten VW Busses und kann einfach nicht schlafen. Es ist kurz vor vier Uhr morgens, mir ist heiß und da ist diese Mücke im Bus. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre sie. Ich bin müde und genervt.

Am liebsten würde ich die Türe aufreißen und so richtig durchatmen. Aber ich traue mich nicht.

Alle Türen sind verbarrikadiert und bis auf das Dachfenster sind alle anderen Fenster nur so weit geöffnet, dass außer Frischluft nichts und niemand auch nur einen Zentimeter in den Bus stecken könnte, was da nicht rein gehört.

Sobald es dunkel wird, ändert sich bei mir nämlich ein bisschen die Lage. Ich bin in Wahrheit ein Angsthase im Mantel einer abenteuerhungrigen Camperin.

Ich traue mich nicht die Türe aufzumachen, deswegen wird aus dem Durchatmen eher nichts mehr. Dafür schiebe ich immerhin schon mal den Vorhang zur Seite, um mir die potentielle Frischluft wenigstens anzuschauen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe zu sehen, aber ich sehe… nichts. Es ist stockdunkel. Jedenfalls auf der einen Seite. Auf der anderen Seite sehe ich Pierre. Er schläft. Und ich bin sicher, er schwitz nicht. Weil er bei offener Schiebetür zwischen Büchern, einer gedimmten Campinglampe und einer Flasche Wein seelenruhig daliegt, schläft und die Frischluft atmet, die ich mir so sehnlich wünsche.

Pierre macht mir Mut. Mit meiner Taschenlampe bewaffnet fokussiere ich unser Schiebefenster und mache es todesmutig um ganze fünf Zentimeter weiter auf. Mindestens.

Es reicht. Die Mitte meines Gesichts passt durch den Schlitz. Ich kann atmen…

Ein tolles Gefühl.

Merci, Pierre.

Ich bin doch mehr abenteuerhungrig als ängstlich. Wusste ich es doch. Ich bin bereit für die Nächte. Zentimeter für Zentimeter…

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