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Krank vor Sorge

Was bringen Vorsorgeuntersuchungen?

Die meisten Menschen lassen sich regelmäßig „durchchecken“, schließlich weiß schon jedes Kind, dass die Heilungschancen besser sind, je früher eine Krankheit diagnostiziert wird. Also geht man zum Arzt, lässt sich untersuchen und Laborwerte bestimmen, obwohl man sich eigentlich nicht krank fühlt, in der Hoffnung ein mögliches Risiko frühzeitig zu entdecken und gegensteuern zu können. Dabei vertrauen die meisten Menschen hier stärker den vermeintlich objektiven Messwerten als ihrem eigenen Empfinden. Beunruhigend ist, dass immer mehr Studien zeigen, dass die scheinbar objektiven Messwerte eher krank machen als frühzeitig vor einer Erkrankung zu warnen.

Es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Beim Check-up 35, einer allgemeinen Vorsorgeuntersuchung, die alle zwei Jahre von den Krankenkassen bezahlt wird, werden Beschwerden abgefragt, Nervenfunktionen getestet, Herz und Lunge abgehört, die Beweglichkeit der Gelenke überprüft und Blut abgenommen um Blutzucker und Cholesterin zu bestimmen, und der Urin untersucht. 2012 wurde dieser Check-up von dänischen Wissenschaftlern unter die Lupe genommen. Das Ergebnis war ernüchternd, die Todesrate war, unabhängig davon, ob man sich regelmäßig checken lässt oder nicht, gleich hoch. Dr. Lasse Krogsböll von der Uniklinik Kopenhagen fasst zusammen, dass Check-ups unnötig Patienten produzieren, weil Grenzwerte für Blutdruck und Cholesterin übertrieben streng angesetzt seien.

Die Grenzwerte scheinen ein Knackpunkt zu sein. Beispielsweise für den Blutdruck wurden sie in den letzen Jahrzehnten kontinuierlich gesenkt. 1983 senkte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Grenzwerte auf 140 zu 90 mmHg. Das hat zur Folge, dass heute jeder Zweite über 50 in Deutschland dauerhaft Blutdrucksenker mit all ihren Nebenwirkungen einnimmt. Dabei stellte das Cochrane-Institut, eine unabhängige Vereinigung von Wissenschaftlern, die Therapien auf ihre Wirksamkeit hin untersucht, fest, dass diese Blutdrucksenker bei Grad-I-Hypertonikern, also Menschen mit einem Druck zwischen 140 und 160, nicht einmal das Risiko eines Herzinfarktes oder Schlaganfalls senken.

Auch beim Cholesterin wurden die Grenzwerte kontinuierlich gesenkt, ebenso beim Nüchternblutzucker, mit dem Effekt, dass viel zu viele gesunde Menschen für krank erklärt werden. Immer mehr Gesundheitswissenschaftler schlagen Alarm. Der amerikanische Nierenspezialist Richard Glassock machte im British Medical Journal darauf aufmerksam, dass nach der neuen Definition von chronischem Nierenversagen jeder achte US-Bürger darunter fällt, bei den über Siebzigjährigen sogar jeder zweite, die alle mit Medikamenten behandelt werden, obwohl nur ein verschwindend geringer Teil tatsächlich mit Nierenversagen im Krankenhaus landet.

Auch die Krebsfrüherkennung bringt nicht nur Vorteile, dabei ist allerdings die Darmkrebsvorsorgeuntersuchung eine rühmliche Ausnahme. Die Zahl der falsch positiven Krebsdiagnosen ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Dr. Wegwarth vom Max-Planck-Institut in Berlin, Abteilung Risikoforschung sagt: „Um eine Frau durch das Mammografiescreening vor dem Krebstod zu retten, werden zehn Frauen fälschlicherweise auf Krebs behandelt.“ Sie bezieht sich dabei auf eine Studie aus dem Jahr 2012, an der über 500.000 Frauen beteiligt waren. Danach müssen insgesamt 2000 Frauen zum Screening gehen, damit eine gerettet werden kann. Das Problem dabei ist, während eine gerettet wird, erhalten zehn Frauen eine falsche Diagnose mit allen psychischen Folgen und entsprechend einschneidenden Behandlungen. Beim Prostatakrebs wird häufig der PSA-Wert (Prostataspezifisches Antigen) bestimmt, obwohl mehrere langjährige Studien zeigen, dass Männer, die diesen Wert bestimmen lassen, keine bessere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Über 50 Prozent der Männer über 50 in Deutschland haben eine Gewebeveränderung in der Prostata, aber nur 3 Prozent sterben daran. Viele werden mit gravierenden Folgen wie Impotenz und Blasenschwäche unnötig therapiert, die Krankenkasse übernimmt die PSA-Bestimmung wegen des geringen Nutzens nicht. Männer sterben also in der Regel nicht an, sondern mit Prostatakrebs.

Ein Grenzwert zieht immer eine klare Linie zwischen gesund und krank, normal oder abnormal. Dabei sind die Übergänge fließend, von kerngesund über nicht mehr ganz gesund bis hin zu krank. Im Grunde genommen ist die Kernfrage bei Vorsorgeuntersuchungen: Wo fängt Krankheit eigentlich an? Die meisten Menschen vertrauen dabei nicht mehr ihrem Körpergefühl, sondern suchen Gewissheit in der modernen Medizin. Diese Suche nach Gewissheit und sicheren Befunden hinterlässt reihenweise verunsicherte Patienten und Ärzte. „Wir sehen mehr, wir machen mehr, aber in vielen Fällen nützt es nur marginal oder gar nichts“, fasst David Klemperer, Professor für Gesundheitswissenschaft und Internist in Regensburg zusammen. Die Vorsorgeuntersuchung führt oft dazu, sich schon vorab Sorgen zu machen, bevor man überhaupt betroffen ist. Diese Sorge im Voraus allein kann dem gesamten Körper übel mitspielen. Fühlt man sich den Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft nicht gewachsen, entsteht bei vielen der Eindruck der Körper müsse regelmäßig überwacht und optimiert werden. Es gibt immer mehr Geräte mit noch genaueren Messmethoden, Patienten installieren Apps, die Schritte zählen und Körperwerte abfragen und verlieren den natürlichen Bezug zu ihrem Körper. Am meisten profitiert davon die Pharmaindustrie, die im Vorsorgewahn auch an gesunde Menschen Medikamente verkaufen kann.

Aldous Huxley, der Autor von „Schöne, neue Welt“ hat schon vor 84 Jahren voraus gesehen: „Die Erforschung von Krankheiten hat so große Fortschritte gemacht, dass es immer schwerer wird, einen Menschen zu finden, der völlig gesund ist.“

Jeder muss für sich eine Position in diesem Bereich finden. Am Ende läuft es auf die Frage hinaus: Wann gehe ich zum Arzt? Wenn ich spüre, da ist etwas, oder wenn ich mich eigentlich gesund fühle?

Text: Judith Anne März (Ärztin für Gynäkologie, klassischer Homöopathie und Informationsmedizin), praxis@wisse-die-wege.de

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