Menschen

Irgendwann ist es Heimat

Als die Aussiedler kamen

Sie kennen die Prozedur: Erst Auffanglager und dann Verteilung. Irgendwann landet man schließlich da, wo man niemanden kennt, am allerwenigsten die Sprache und die Mentalität des Landes und seiner Bevölkerung. Man ist die Aussiedlerfamilie, jene aus Russland mit dem rollenden R und den Kehlkopflauten. Dankbarkeit muss man zeigen, dass man eine neue Bleibe gefunden hat. Heimat? Irgendwann einmal. Später, wenn alle Wunden vergessen sind, die Sehnsucht nicht mehr da ist.

Als Dimitri (34 Jahre) und Helene (36 Jahre ) nach Deutschland kamen, waren sie Teenager. Ihr kleiner Bruder Waldemar war erst neun Jahre alt. „Er hat nicht so viel mitbekommen“, erzählt Helena. 1992 kamen sie in das Land ihrer Vorfahren zurück. Sie sind Russlanddeutsche. Sie waren gespannt, was sie in Deutschland erwarten würde. Der Onkel erzählte immer, wie schön es bei den „Nimjecki“ (Deutschen) ist. Doch so schön, wie es der Verwandte ausmalte, war es anfangs gar nicht.

Als sie in Frankfurt ankamen, wurden sie von der Verwandtschaft bereits erwartet und nach Nürnberg in ein Übergangsheim gebracht. „Das war wirklich krass, zu fünft in einem kleinen Zimmer in einem Plattenbau zu leben. Es war alles so grau. Ich war enttäuscht und ich hab mich gefragt, wo bin ich hier gelandet“, erinnert sich Helena.

Später kamen sie nach Augsburg und von dort aus direkt nach Schwangau. Auch hier bekamen sie zuerst ein Zimmer zugewiesen, bis sie dann eine Dreizimmerwohnung beziehen konnten. Nur Vater Kalugin und der Großvater sprachen Deutsch. „Wir hatten in der Schule Deutsch, das war aber nicht zu vergleichen mit dem Deutsch hier. Es muss eine andere Fremdsprache gewesen sein, die wir unterrichtet bekamen“, lachen die drei Geschwister. Geboren sind sie in Usbekistan und aufgewachsen in Kasachstan, bis sie dann weiter nach Moldawien zogen. Heute können die drei Geschwister sagen, dass sie angekommen sind. Und die Heimat? „Das ist hier, obwohl die Wurzeln wo anders liegen.“

FA_02_15_Aussiedler02Waldemar  Schmidt:
Ich kam in eine Klasse, wo nur Ausländer waren. Kein einziger deutscher Schüler. Die Kinder waren so zwischen neun und 12 Jahren alt. Im ersten Schuljahr schauten die Lehrer, wie weit die Kinder mit dem Schulstoff sind. Weil ich in Mathe ziemlich gut war, durfte ich sozusagen einen „Leistungskurs“ in Mathe mit den Drittklässlern mitmachen.

Nach einem Jahr wechselte ich dann in die normale Schule in die dritte Klasse. Ich konnte am Anfang nicht viel Deutsch, aber ich hab mich gut integriert, weil ich Fußball spielte. In dem Haus, wo wir wohnten, waren nur Russen untergebracht. Richtig angekommen bin ich allerdings erst mit  12 oder 13 Jahren. Dann war auch die Akzeptanz da, ich konnte mich verständigen. Ab da ging es aufwärts, auch mit Freundschaften, das zeigte sich darin, dass ich zu Geburtstagspartys eingeladen wurde.
Damals war ich weder von Russen akzeptiert, noch von den Deutschen. Im Grunde genommen werde ich immer der Ausländer bleiben – es ist nicht böse gemeint, aber es ist einfach so. Ich fühle mich deutsch, aber ich weiß wo ich herkomme. Ich weiß ja nichts oder kaum von der russischen Kultur, es ist keine Verbindung da. Ausser das Ich fliesend russisch sprechen, aber kann weder lesen noch schreiben. Für mich ist Schwangau mein Heimatort, da bin ich aufgewachsen. Jetzt wohne ich in Füssen, aber irgendwann will ich wieder nach Schwangau, weil ich mich da wohl fühle. Die Stadtluft ist nichts für mich (lacht).

FA_02_15_Aussiedler03Dimitri Schmidt:
Als ich nach Deutschland kam, war ich 14 Jahre alt. Ich hab mich ziemlich schwer getan. Mit 15 Jahren bin ich von der Schule geflogen. Ich bin dann ins Internat nach Memmingen, dort habe ich meinen Abschluss nachgeholt. Es war keine gute Zeit. Überall waren Russen, es war einfach schwer Kontakt zu Deutschen und ihrer Kultur zu finden. Im Internat fing ich dann an, mich für andere Sachen zu interessieren als für die Schule. Rauchen, Trinken und Mädels waren angesagt. Danach bin ich nach Kaufbeuren zum Berufsvorbereitungsjahr. Das hat mir nichts gebracht. Ich hatte wirklich Glück, dass ich nicht auf die schiefe Bahn geriet.
Letzendlich machte ich meine Ausbildung zum Molkereifachmann. Ich hätte jede Ausbildung gemacht – Hauptsache war, dass ich nicht noch einmal ein Jahr verliere. Nach der Ausbildung war ich LKW- Fahrer für den Fernverkehr und später Müllfahrer. Eine Freundin sagte mir, warum ich mich nicht bei Nestle bewerbe. Ich hab es gemacht und bin richtig froh darüber. Dieser Job ist wirklich ein Glück für mich und meine Familie. Ab Februar komme ich in eine neue Abteilung und ich freue mich schon darauf.

Zuhause spreche ich russisch und deutsch. Meine Kinder antworten immer auf deutsch. Meine Frau kommt aus Tadschikistan. Ich war 21, als wir heirateten. Meine Frau kocht russisch, wir leben auch die russische Kultur. Ich passe schon auf, dass meine Kinder eine Ausbildung haben, mit wem sie zusammen sind. Sie wachsen jetzt schon anders auf.

FA_02_15_Aussiedler01Helene:
Ich hatte es ziemlich schwer und schlimm empfunden. In der Schule sitzt man da und weiß gar nicht worüber die Anderen sprechen. Ich habe keinen Bezug zu den Schülern gefunden. In meiner Klasse gab es 15 Russen. Da hat man sich mit denen unterhalten. Ich bin in die achte Klasse gekommen. Die Neunte wollte ich dann freiwillig wiederholen, aber ich wurde nicht zugelassen, weil ich die Sprache nicht konnte. Tja, was willst Du jetzt machen, ohne Hauptschulabschluss? Damals hatte ich meinen Freund und jetzigen Mann. Dann dachte ich mir, ich geh auch in das Kolpingbildungswerk – das wollte mein Freund nicht, weil er meinte, es würde mir genauso wie Dimi ergehen – Rauchen, Trinken, etc. Das Internat hatte keinen guten Ruf. Ich machte ein Praktikum in einem Kurhotel in der Bäderabteilung. Ein ganzes Jahr lang. Danach war Schluss und die Frage stellte sich wieder, was nun?

Dann habe ich den Pflegehelferinnenkurs gemacht und bekam die Möglichkeit, in einem Pflegeheim zu arbeiten. Ich bin dankbar, dass ich so wunderbare Brüder habe und bin heilfroh, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geraten sind. Wenn ich so zurückblicke war es nicht einfach. Die ganze Situation hat mich ziemlich lange beschäftig, weil ich auch gemobbt wurde. Jetzt bin ich froh. Jeder von uns hat seinen Weg gemacht. Dimi hat einen sehr guten Job und Walde hat sein eigenes Pub. Wer hätte das alles gedacht, nach den vielen Anfangsschwierigkeiten? Das Beste an allem ist allerdings, das wir Drei uns sehr gut verstehen. Das ist so viel Wert.

Meinen Weg hätte ich wahrscheinlich so nicht gemacht, wenn ich nicht so einen tollen Mann an meiner Seite gehabt hätte. Er kam 1989 nach Deutschland. Wir haben zwei Kinder und ich fühle mich hier wohl und möchte auch nirgendwoanders hin. So wie es ist, bin ich zufrieden. Dieses Jahr haben wir beschlossen im Mai nach Russland zu fahren. Die Kinder sollen das Land oder zumindest einen kleinen Teil davon sehen, sozusagen die Wurzeln ihrer Eltern.

Text · Bilder: Sabina Riegger

Verwandte Artikel

Das könnte Dich auch interessieren
Schließen
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Nacht der Musik 2024