Menschen

„Liebe das Leben und lebe die Liebe“

Vom Postbotenjungen zum Bezirkssekretär der deutschen Postgewerkschaft

Er war links, nicht so extrem links, wie es ein Gewerkschaftler zu der Zeit war. Aber die grundphilosophischen Fragen des Seins und die gesellschaftspolitischen Ansichten gehörten dazu wie das Amen in der Kirche. Gott hatte da keinen Platz in seinem Leben. Denn das war vollgestopft mit Veranstaltungen und Seminaren zum Wohle anderer. 1974 änderte sich sein Leben von einer Minute auf die andere. Es war der schwere Unfall, der ihn dazu veranlasste, ein Versprechen abzugeben. Er wollte sein Leben ändern. Dass er einmal in einen Orden eintreten würde, das hätte er nie gedacht. Dazu stand er voll im Leben. Er wollte Familie und Kinder. Heute ist Pater Michael dankbar, „dass es so gekommen ist, wie es kommen musste.“

Pater Michael ist 68 Jahre alt. Er ist längst angekommen in dem Leben, das er freiwillig gewählt hat. Seine braune Habit, sie ist das ursprüngliche italienische Bauerngewand, trägt er so wie ein Manager seinen Anzug. Der Strick um seine Taille hat drei Knoten. Sie symbolisieren die drei Gelübde, die ein Franziskaner ablegt: Armut, ehelose Keuschheit und Gehorsam. Er hat sich äußerlich verändert – ist ja logisch. Es liegen auch 40 Jahre dazwischen, wo er noch lange Haare trug, Bee Gees, Beatles und die Rolling Stones hörte. Er gehörte zu den 68ern dazu, eine wilde Zeit, die Umbrüche mit sich brachte, von der Gesellschaft forderte und nach Änderungen schrie. „Ich habe mich sehr für die Absetzung der Volljährigkeit engagiert“, erzählt Pater Michael. Willy Brandt hat ihm imponiert, dem kleinen Jungen, der in Pauldorf im Böhmerwald geboren wurde. Deutschland stand im Umbruch. Worte wie Weiterentwicklung standen auf den vielen Parolen – und er war mittendrin und dabei. Mit 25 Jahren hatte er es dann geschafft: vom Postbotenjungen zum Bezirkssekretär der deutschen Postgewerkschaft zu werden. Wahrscheinlich wäre er die Karriereleiter noch weiter hoch geklettert, wenn der Unfall nicht passiert wäre. „Ich war damals ständig in Aktion und viel unterwegs. Es gehörte zu meinem Leben dazu, ich war für die Organisation und Vertretung der Mitarbeiter im Beamtenrecht zuständig.“ Es war lange nach Mitternacht, als Pater Michael mit seinem Auto gegen einen Baum fuhr. Er zog sich schwere Kopf- und innere Verletzungen zu. Ein halbes Jahr lang brauchte er, um wieder gesund zu werden. „In dieser Zeit habe ich mir gesagt, dass ich mein Leben ändern muss. Ich habe irgendetwas vermisst. Dass es die innere Ruhe war, sollte ich erst viel später erfahren“, so der Ordensmann, der ganz  entspannt in seinem Stuhl sitzt und die Hände wie zu einem Gebet gefaltet, hält. Es ist eine zufriedene Gelassenheit, die er ausstrahlt. Vielleicht ist das eine Einbildung vielleicht liegt es aber auch an dem spartanisch möblierten  Raum, in dem die Heilige Maria betend auf einem kleinen Tisch steht und das große Kreuz, das fast oberhalb des Kopfes von Pater Michael aufgehängt ist, warum man plötzlich selber nach dieser Ruhe greifen will, die so ganz anders ist, als man sie kennt. Vielleicht.

Der Glaube

„Kinder machen immer das Gegenteil von dem, was die Eltern vorleben. Ich nehme mich da nicht aus“, sagt er ehrlich. Pater Michael wuchs in Miltenberg auf. Hier kannte jeder jeden. „Durch die Post lernte ich viele Familien persönlich kennen. Ich bin jeden Tag in die Wohnungen gekommen, weil ich Radiogeld oder Zeitungsgeld kassieren musste oder Renten zustellen. Früher war es ganz anders. Da hat der Postbeamte noch etwas gegolten,“ blickt der Franziskanerpater zurück. Obwohl er sehr religiös aufgewachsen ist und Ministrant war, gab es ab dem 14. Lebensjahr für den Pater keine Kirche mehr. Es fing ein neues Leben an, das so gar nicht in sein altes passte und das, obwohl er gerne ein Diener Gottes war und ihn die in Latein abgehaltenen Messen faszinierten. In seiner Stimme hört man keine Reue oder Verlegenheit. „Warum auch, alles hatte seine Zeit“, sagt er kurz.

Es war der Priester, der ihn täglich im Krankenhaus besuchte und ihm letztendlich einen kleinen Zettel in die Hand drückte und meinte, dass er dort gut aufgehoben wäre, um zur Ruhe zu kommen. Mit „Dort“ meinte der Krankenhausseelsorger den Franziskushof. „Ich bin ins Krankenhaus gekommen und ich habe wirklich nicht gewusst, ob ich wieder auf die Beine komme. Und da habe ich mich schon gefragt, warum ist das passiert? Einige Jahre vorher dachte ich mir, es ist alles möglich, bis ich dann die Brüchigkeit des Lebens merkte. Mich haben die grundphilosophischen Fragen des Menschen immer schon interessiert –was ist der Mensch, was ist der Sinn des Lebens… Ich lebte nach dem marxistischen Satz: „Es ist nicht das Bewusstsein, das unser gesellschaftliches Sein bestimmt, sondern es ist das gesellschaftliche Sein, das unser Bewusstsein bestimmt“, das war die Grundlage meiner Arbeit. Da kam Gott nicht vor.“ Der Krankenhausseelsorger fragte ihn, wann er das  letzte Mal glücklich war und ein Grundvertrauen hatte? Erst da merkte er, dass ihm etwas fehlte. „Ich war in meiner Kindheit so unbeschwert und glücklich und das wollte ich wieder haben. Da war die Welt noch in Ordnung“, so Pater Michael.

1974 kam er zum ersten Mal in den Franziskushof und entschloss sich bald darauf, seine Stelle bei der Post zu kündigen. Er wusste, dass es irgendwie auf diesem Weg weitergehen wird. Pater Michael behielt recht, seine innere Stimme täuschte ihn nicht. „Im Franziskushof habe ich zum ersten Mal seit ganz langer Zeit meinen inneren Frieden gefunden.“ Der Franziskushof, der zugleich auch eine Begegnungsstätte war, hieß „Haus der Stille“, dort kam der Ordensmann zum ersten Mal mit den Psalmengebeten in Berührung, in der er seine Lebenssituation wiederfand. Heute noch sind die Psalmengebete für den 68-Jährigen ein grundlegender Bestandteil. Ein bisschen erstaunt und doch stolz war die Familie von Pater Michael, als er ihnen sagte, dass er Priester werden würde. Warum er sich für den Franziskanerorden entschieden hat,  erklärt Pater Michael so: „Ich bin kein klassischer Mönch. Ein Mönch tritt in eine Abtei ein und ist dort sein ganzes Leben lang. Franziskus war das nicht. Er wollte so leben wie Jesus, er war nicht ortsgebunden, hatte ehelos gelebt und hatte keine Eigentümer. Wir sind ortsungebunden, ich kann überall als Seelsorger arbeiten und kann in jedes Franziskanerkloster gehen.“

Den Sinn des Lebens hat er für sich schon lange entdeckt: Er beschreibt ihn so: „Ich habe mich mit der Astrologie befasst. Da ist mir immer deutlicher der Polarstern geworden. Er steht immer an derselben Stelle. Der Polarstern gibt eine Orientierung an, weil der Nordpunkt immer am Polarstern ist. Wenn man das auf unser Leben überträgt, dann bedeutet es einen Sinn haben. Es ist eine feste Grundlage, ein festes Bild für unser Leben. Es gibt uns eine Orientierung. Gott ist Liebe, das ist der feste Punkt – Liebe hört niemals auf, von daher können wir immer wieder neu aufstehen. Sucht zuerst das Reich Gottes, dann kommt alles andere dazu. Ich lebe nach dem Motto: „Liebe das Leben und lebe die Liebe“. Eins ist wichtig zu verstehen: Jeder Mensch ist von Haus aus religiös.“

Text · Bild Sabina Riegger

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