Menschen

Ein bewegtes Leben

… und trotzdem ist es schön

Man nannte sie Schwabenkinder, jene Kinder, die aus dem Vorarlberg, Tirol, Südtirol, der Schweiz und Liechtenstein kamen, und in früheren Jahrhunderten aus Armut alljährlich im Frühjahr durch die Alpen zu den Kindermärkten hauptsächlich nach Oberschwaben zogen, um dort als Arbeitskräfte für eine Saison an Bauern vermittelt zu werden. Die Wege aus Tirol und Vorarlberg bzw. aus der Schweiz nach Oberschwaben waren lang und beschwerlich. Für einen Teil der meist 5- bis 14-jährigen Kinder führte er über Bergpässe wie den Arlberg, die in der Regel im März noch von Schnee bedeckt waren und die viele mit schlechtem Schuhwerk und dürftiger Kleidung zu überwinden hatten. Die Kindermärkte in Oberschwaben fanden meist um Josephi (19. März) statt. Zu „Simon und Juda“ (Ende Oktober) oder an Martini (11. November) ging es wieder in Richtung Heimat. Im Gepäck war dann das sogenannte „Doppelt Häs“, ein doppelter Satz Kleidung von der Kopfbedeckung bis zum Schuhwerk und je nach Alter und ausgehandeltem Preis einige Gulden.

Auch Hans Barbist aus Höfen war ein Schwabenkind. Er hatte das Glück eine gute Bauersfamilie in Schneidbach bei Nesselwang erwischt zu haben. Als er mit seinen Freunden draußen Fußball spielte, kam ein Motorrad mit Beiwagen an, dass anhielt und fragte, ob sie nicht zum Arbeiten ins Allgäu wollten. „Ich wollte sofort mit“, erzählt der heute 85-Jährige, weil ihn die „Pflotter“, wie er das Motorrad nannte, so faszinierte. Sein Vater wollte ihn nicht mitgehen lassen. Zu viel Schlechtes hat er gehört über die Behandlung der Kinder. Manche wurden geschlagen oder wie Tiere behandelt, Mädchen wurden misshandelt. Letztendlich verabschiedete er seinen Sohn, doch nicht ohne seinen Begleitern noch einen Satz für den Bauern mit auf den Weg zu geben: „Wenns dem Bua schlecht goht, dann schneid ich ihm den Grind ra.“ Auf 40 Stück Vieh, Jungvieh, Ochsen und Pferde musste Hans Barbist aufpassen. Um halb sechs fing der Tag für ihn an bis abends um acht. Auch sein Freund, der  Pfaffenmoser Beppi, war mit ihm unterwegs, allerdings bei einem anderen Bauern. „Uns ging es gut, wir hatten genug zum Essen und bekamen zum Schluss noch Schuhe geschenkt.“ Nur mit der Schule hatten die beiden Tiroler Buben Schwierigkeiten. „Der Klassenlehrer hat uns im Klassenzimmer seitwärts sitzen lassen. Die Schüler haben mit Papierkugeln auf uns geworfen. Sie wollten keine Tirolerbeutel. Nach der Schule war es dann obligatorisch, dass wir abgefotzt wurden“, erzählt er heute lachend. Also entschlossen sich die Beiden, abzuhauen. Sie wussten, dass die Zuggleise nach Reutte führten, von dort aus hätten sie es nicht mehr weit bis nach Hause gehabt. „Doch der Bauer hat es mitgekriegt, dass etwas nicht in Ordnung war und dann erzählte ich ihm, dass ich nicht mehr zur Schule will. Auch der Pfaffenmoser Beppi erzählte es seinem Bauern. Zum Glück wurden wir dann vom Schulunterricht befreit, weil unsere Bauern zum Schuldirektor gegangen sind und ihm erklärt haben, wie wichtig unsere Arbeitskraft für ihren Hof ist.“ Nicht ohne Stolz erzählt Hans Barbist diese Geschichte, eine schöne Episode in seinem bewegten Leben, das nicht immer glatt verlief.

Mit 15 Jahren fing er eine Ausbildung als Spengler und Heizungsinstallateur an, um nur kurze Zeit später in den Krieg zu ziehen. „Es war Ende 1944 oder Anfang 45. Keiner von uns verstand den Ernst des Krieges. Eine Frau erklärte mir, was Krieg bedeutet: Da gehen Zwei aufeinander los und Einer überlebt.“ Was das genau bedeutete, bekam er dann auch schnell mit. „Man sah verhungerte Gestalten und viel Elend. Soldaten, die fliehen wollten.“ Auch ihm passierte es wie vielen Anderen zuvor, dass er in die Situation kam, wo er Herr über Leben und Tod war. „Als der Feind von Koblenz näher rückte, versteckten sich manche Soldaten in den Weinbergen. Sie flohen, weil sie Angst hatten. Ich hatte Wache und hörte das leichte Vibrieren der Drähte von den Weinbergen her. Es war eine enorme Anspannung. Plötzlich stand ein Soldat vor mir und sagte: Bua lass das Gewehr fallen, der Feind kommt. Ich hatte den Befehl zum Schießen, aber das konnte ich nicht. Der Soldat war dann weg.“

Das Elend

Zum ersten Mal sah Hans Barbist dunkelhäutige Soldaten. Sie waren so groß, dass er erst einmal nur staunte. Er und andere Soldaten wurden gefangen genommen und in ein Sammellager nach Mainz gebracht. Von dort aus wurden sie auf offenen Kohlewaggons verladen mit dem Ziel in Richtung Normandie. „Wenn wir unter Brücken durch Frankreich fuhren hatten wir Angst, weil die Franzosen von den Brücken große Steinbrocken auf die Kohlewaggons warfen. Viele sind dadurch umgekommen. Manche haben sich in der Gefangenschaft umgebracht. Sie sagten immer: ‚‚I komm nimmer hoim. Das war schon ein Elend.“ Bewegt erzählt Hans Barbist von dieser Zeit, vom Essen, der Krautsuppe, in der alles mitgekocht wurde, angefangen von Schnecken bis hin zu den Würmern. „Es war alles drin, aber man hat es gegessen. Man durfte nicht heikel sein. Ich habe mir immer leicht getan, weil ich nie ein großer Esser war. Andere sind verhungert.“

Neuer Lebensabschnitt

Vieles hat sich danach verändert. Die Menschen mussten sich neu orientieren, Dinge vergessen, die ihr Leben stark beeinträchtigt haben. Man musste neu beginnen, so wie Hans Barbist. „Die Lehre konnte ich nicht mehr weiter machen. Mein Vater hat mich dann als Handlanger auf den Bau mitgenommen. Später bin ich dann zu den Holzern gegangen und dann zur Holzindustrie Fritz. Heute sagt man: ‚‚Warum hast nichts gelernt – ganz einfach, ich wollte, aber die Zeit war so. Das war schon traurig.“

Dennoch ist der 85-Jährige zufrieden. Seit 37 Jahren lebt er in der Ziegelwies, einem Stadtteil von Füssen. „Ich bin gesund, habe eine gute Frau und eine tolle Familie“, sagt er sichtlich zufrieden und schaut dabei seine Frau an. Über seine Kindheit kann er sich nicht beschweren. „Ich habe eine schöne Kindheit gehabt. Andren isch es ja gleich ganga. Da warscht leicht zufrieden. Armut war überall“, sagt er im Tiroler Dialekt. An den Krieg mag er sich ungern erinnern. Es waren furchtbare Zeiten. „Man hat sich untereinander nicht vertraut. Wehe, man hat über den Krieg was Negatives gesagt, dann musste man um sein Leben bangen. Und die blöden Fragen wie: Warum bischt Du eingeruckt, du bleder Hund? Weil ich musste, weil ich gezwungen wurde. Welcher normale Mensch geht freiwillig in den Krieg?“

Text: Sabina Riegger · Bild: privat

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