Menschen

Im Gespräch mit Gabriele Roth-Winter

Wenn fremde Mütter helfen

Füssen.    Wie sind heutzutage die Vorstellungen einer ganz normalen Familie? Geregeltes Einkommen? Heiraten? Vielleicht Kinder? Nicht immer läuft alles wie geplant und oftmals müssen die eigenen Kinder darunter leiden. Dann kann es aus verschiedensten Gründen vorkommen, dass Eltern ihrer Rolle als versorgende, schützende Hand nicht gerecht werden. Die betroffenen Kinder brauchen in solch schwierigen Situation deshalb Unterstützung von jemand Anderem. Wenn Sie Glück haben, bekommen sie die von helfenden Verwandten oder gar engen Freunden, wenn nicht, sind es Fremde. Fremde, die selbst keine Kinder haben, oder sich einfach dazu in der Lage fühlen, ein Kind in die Pflege zu nehmen.
So auch Gabriele und Claus Winter. Sie sind selbst Eltern von vier Kindern und haben sich vor einiger Zeit dazu entschlossen, noch zusätzlich Pflegekinder für gewisse Zeiträume zu sich zu nehmen. Im Moment sind zwei weitere Kinder bei ihnen in Obhut und zählen somit schon fast zu einer Großfamilie. Aber an zu wenig Auslastung der Besitzer und Betreiber der „Ritterstub’n“ in Füssen kann es wohl kaum liegen, eine solch mühevolle Aufgabe auf sich zu nehmen. Wir fragen uns deshalb, warum man eine so verantwortungsvolle Entscheidung trifft und wie man als Gastronom mit sechs Kindern im Alltag zurechtkommt.

Frau Winter, war schon im Vorhinein klar, wie viele Kinder Sie mal haben möchten?
Nein, war es nicht. Das hat sich nach und nach so ergeben.

Wie ist es für ein Kind, in einer Pflegefamilie zu leben? Lässt es sich etwas anmerken?
Ein kleines Kind nimmt das normalerweise immer leichter hin als ein Jugendlicher, da sie nicht immer in der Lage sind, etwas zu hinterfragen. Das Problem bei Jüngeren ist eher, wenn Sie ein paar Stunden am Tag ihre leiblichen Eltern besuchen, kann das sie schon manchmal sehr mitnehmen und sogar verwirren.
Auffällig ist auch, dass viele Pflegekinder bindungsunfähiger sind, dafür aber schneller selbstständig werden. Sie bilden spezielle Überlebensstrategien. Vor allem bei Geschwistern, die zusammen die Familie wechseln, ist der Zusammenhalt sehr groß und sie brauchen wenig Hilfe von Außenstehenden.

Sie haben selbst vier leibliche Kinder, warum wollten Sie noch mehr? Wer hatte die Idee, Pflegekinder aufzunehmen und was war die Motivation dahinter?
Unsere Kinder haben alles was sie brauchen. Es gibt viele Andere, denen es aber nicht so geht und wir wollten so etwas Gutes tun, da auch sie das Recht haben, ein normales Leben zu führen. Die Idee hatten wir schon zwei Jahre vor der ersten Aufnahme eines Kindes und haben uns dafür die nötige Broschüre vom Jugendamt zukommen lassen. Die wurde dann für Wochen beiseite gelegt und immer mal wieder angesprochen, bis wir uns schließlich dafür entschieden. Ich denke, so eine Entscheidung braucht Zeit und muss ausführlich mit dem Partner beredet werden.

Wie reagierten Freunde oder Verwandte auf Ihre Entscheidung?
Die Reaktionen von Verwandten waren am Anfang ganz unterschiedlich. Manche hatten natürlich Zweifel, ob wir uns da nicht überfordern. Die Meisten haben uns aber sofort unterstützt, was eine schöne Erfahrung war. Von Seiten der Freunde war das ganz genau so. Viele erklärten uns für verrückt, aber in positiver Hinsicht.

Wie nehmen es ihre leiblichen Kinder hin, wenn Pflegekinder zu Ihnen kommen?
Für sie ist es in Ordnung, sonst hätten wir das Alles nicht gemacht.

Kann man Muttergefühle auch bei Pflegekindern aufbauen?
Natürlich, aber das kann zu Problemen führen. Selber leidet man, wenn die Kinder dann weg sind und die Kinder letztendlich auch. Sie sind normalerweise nur auf bestimmte Zeit da. Um ihnen das  Loslösen zu erleichtern, sollte man das alles distanzierter und objektiver betrachten.

Benötigt man als Pflegemutter spezielle Qualifikationen?
Wenn Sie jetzt speziell eine Ausbildung meinen, dann nicht. Wichtig ist, das man die Kinder in seiner Familie leben lässt und sie zu einem Teil davon macht.

Wissen Sie schon im Vorfeld, welches Kind Sie zur Pflege bekommen?
Ja, eigentlich schon, weil wir vom Jugendamt etwas über den Hintergrund, beziehungsweise das Umfeld durch einen von ihnen verfassten Lebenslauf erfahren. Wir haben auch die Möglichkeit,  das ungefähre Alter und Geschlecht des Kindes festzulegen. Es kann aber immer vorkommen, dass ein Kind die Pflegeeltern schon nach einer Woche wechselt, weil es sich unwohl fühlt oder nicht den richtigen Platz findet.

Sie sprachen vorhin von Bindungsunfähigkeit bei manchen Pflegekindern. Muss man das distanziert betrachten?
Ja, ich denke schon. Bei unserem ersten Pflegekind habe ich mir sehr viel Sorgen und Gedanken gemacht, wie schlimm der Hintergrund war, aus dem es stammt, oder ob das Kind uns wohlwollend aufnimmt und umgekehrt. Wie gesagt, mit der Zeit denkt man distanzierter. Beispielsweise versuchen wir mit den leiblichen Eltern so wenig Kontakt wie möglich zu halten und konzen- trieren uns stattdessen darauf, dass es die Kinder in der Zeit, in der sie bei uns sind, so angenehm wie möglich haben.

Wie ist das mit Ausflügen oder Einkäufen? Werden im Alltag alle gleich behandelt?
Unsere Pflegekinder werden genauso behandelt wie unsere leiblichen und gehören somit ganz normal zur Familie. Niemand wird bei uns bevorzugt oder muss auf etwas verzichten. Auch von ihren Großeltern bekommen alle die selbe Zuneigung und Aufmerksamkeit und das ist uns sehr wichtig. Wenn wir alle gemeinsam unterwegs sind, ziehen wir von dem Ein oder Anderen schon schnell mal ein schrägen Blick auf uns, wenn man mit der ganzen Familie das Haus verlässt, was in voller Besetzung bei uns aber nur selten vorkommt und uns auch nicht wirklich kümmert. An unserem Lebensstil hat sich im Grunde nichts verändert.

Wie kommen Sie und ihr Mann damit zurecht, eine, für heutige Verhältnisse, so große Familie zu sein?
Viele Familien mit nur einem Kind reagieren heutzutage schon überfordert, ihre Arbeit und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Sie investieren viel Zeit in die Bildung und schenken ihren Kindern die größtmögliche Aufmerksamkeit, damit sie in  der Schule erfolgreich bleiben. So lernen Kinder aber nie selbstständig zu handeln, was für ihr späteres Leben aber sehr wichtig ist. Aufgaben wie Hausaufgaben erledigen überlass ich den Kindern selbst. Natürlich immer mit einem Augenmerk darauf. Nur so lernen sie etwas für sich zu erreichen und nicht für die Eltern.

Vielen Dank für das Gespräch!
Ich danke Ihnen.

Im Gespräch mit Roland Hartl

Um genauere Information zu erhalten, was zu tun ist, wenn man ein Kind in die Pflege nehmen möchte, wie viele Kinder in Deutschland bei „fremden“ Eltern wohnen und was das Hauptanliegen ist, damit Kinder ihren leiblichen Eltern entzogen werden, haben wir uns zusätzlich mit Roland Hartl vom Jugendamt Marktoberdorf unterhalten. Herr Hartl arbeitet seit über 15 Jahren mit Pflegekindern und deren Familien zusammen.

Wie viele Kinder werden jährlich hier in der Region oder deutschlandweit vermittelt? Das kann ich nicht so genau sagen. Nach dem deutschen Jugendinstitut lebten im Jahre 2008 deutschlandweit über 60.000 Kinder in Pflegefamilien. Regional gesehen leben im gesamten Ostallgäu 50 Pflegekinder in circa 40 Pflegefamilien, diese Kinder sind Dauerpflegefälle. Aktuell vermittelt wurden im letzten Jahr acht Kinder an verschiedene Pflegeeltern. Die Tendenz für die Zukunft ist steigend.

Wer benachrichtigt das Jugendamt, wenn Kinder Hilfe oder eine Pflegefamilie benötigen?
In Einzelfällen gibt es Eltern, die bei uns persönlich im Jugendamt anrufen und um Unterstützung bitten. Das Kinder unsere Hilfe benötigen, bekommen wir aber aus zweiter Hand mit. Unsere Hauptquellen sind hierbei Kindergärten, Schulen oder auch Nachbarn – praktisch das soziale Umfeld des Kindes. Es gibt unterschiedlichste Gründe, warun Kinder von uns vermittelt werden. Zum Einen gibt es immer mehr junge alleinerziehende Mütter, die stark überfordert sind oder auch Elternteile, die unter einer psychischen Erkrankung leiden. Zum Anderen gibt es auch Extremfälle wie Misshandlungen oder Verwahrlosungen, die mit diesen Erkrankungen zusammenhängen. Dann greifen wir ein.

Welche Kriterien sollte man erfüllen, um ein Pflegekind aufnehmen zu können?
Über ein Bewerbungsverfahren kann man sich jederzeit als Pflegemutter oder Pflegevater bei uns anmelden. Dann werden Daten wie beispielsweise die wirtschaftlichen Verhältnisse oder auch der Besitz eines reinen Führungszeugnisses der entsprechenden Personen überprüft. Vom Familienstand her, bevorzugen wir Ehepaare, da sie einen gewissen Modellcharakter pflegen. Einzelpersonen und unverheiratete Paare stellen aber auch nach wie vor kein Problem dar. Wenn das Bewerbungsverfahren positiv ausfällt, müssen wir vor allem sicher stellen, dass das Kind gut und fürsorglich behandelt wird. Zum Beispiel sollte dem Umsorgten  ein gewisser Freiraum zugestellt werden, das heißt einen eigenen Schlafplatz und einen Ort zur Ausübung von Freizeitaktivitäten oder Hausaufgaben. Die Eltern werden natürlich dafür auch finanziell unterstützt. Neben dem Kindergeld wie bei leiblichen Nachkommen auch, bekommt man zusätzlich im Monat Pflegegeld ausbezahlt.

Wie lang bleiben Pflegekinder in der Regel? Es gibt zunächst verschiedene Arten von Pflege. Zum einen die Bereitschaftspflege. Hier erklären sich Personen bereit, Pflegekinder kurzfristig für ein bis drei Wochen aufzunehmen. Beispielsweise, wenn eine alleinerziehende Mutter plötzlich ins Krankenhaus muss und somit sofort ausfällt. Des Weiteren gibt es Kurzzeitpflegefälle, die für einen feststehenden, kurzen Zeitraum festgelegt werden und zuletzt die Vollzeit- beziehungsweise Dauerpflegen. Hier bleiben Kinder so lang bei Pflegeeltern bis sie sich selbst versorgen können und gegebenenfalls ausziehen.

Bleiben Sie mit den Pflegeeltern, den leiblichen Eltern und den zu pflegenden Kindern regelmäßig in Verbindung? Ja, natürlich, wir vom Jugendamt haben ja einen gewissen Beratungsauftrag. Es werden immer mal wieder Hausbesuche mit den Eltern und Geschwistern, egal ob leiblich oder pflegend, vereinbart, damit sichergestellt werden kann, dass alles für das gepflegte Kind in bester Ordnung ist. Außerdem ist eine Hilfeplan-Fortschreibung gesetzlich vorgegeben. Hierbei wird halbjährig ein vorher angelegtes Protokoll fortgesetzt, indem die allgemeinen Verhältnisse aber auch bestimmte Entwicklungen niedergeschrieben werden.

Wer ist der genaue Ansprechpartner, wenn man ein Kind unterstützen möchte?
Das Jugendamt. Man findet genauere Informationen auch auf unserer Internetseite: www.lra-ostallgaeu.de.

 

Text: Felix Schmid
Bild: Sabina Riegger, Jugendamt MOD

Verwandte Artikel

Das könnte Dich auch interessieren
Schließen
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Nacht der Musik 2024