Menschen

„Ich fühle mich hier wohl“

Merhaba Füssen

Füssen.    Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei am 30. Oktober 1961 markierte den Beginn der türkischen Einwanderung nach Deutschland. Die Anwerbeabkommen haben die soziale, kulturelle und politische Realität Deutschlands nachhaltig verändert – viel mehr, als das den damaligen Verantwortlichen bewusst war. Aus „Gastarbeitern“ wurden Einwohner, aus Italienern, Jugoslawen und, Türken millionenfach deutsche Staatsbürger. 

Mit 5.000 anderen Türken ist Yilmaz Erbas im August 1969 nach einer viertägigen Reise im Zug in München angekommen. Sie standen alle auf Gleis 1, bis man sie dann zwei Stockwerke tiefer in einen großen Raum führte. „Der Raum war furchtbar niedrig, wir konnten gerade noch darin stehen. Wir bekamen einen halben Liter Milch, Brot und einen Dreieckskäse zu essen“, erinnert sich der heute  60-Jährige. Dort wurden die Gastarbeiter aus der Türkei dann von den Firmen abgeholt, die ihnen schon vorab einen Arbeitsvertrag in die Türkei schickten. Auch Yilmaz, der zunächst in der Kemptener Maschinenfabrik arbeitete. Zwei Wohnbaracken standen dort für die Neuankömmlinge bereit. „Ich teilte mir das Zimmer mit fünf anderen. Jeder hatte ein Etagenbett für sich“, beschreibt er seine damalige Wohnsituation. Gegenüber war ein Zimmer mit Italienern, auch sie fanden dort ihren ersten Wohnsitz, genauso wie die Jugoslawen und Griechen. Es war eine große internationale Wohngemeinschaft mit 40 Gastarbeitern pro Wohnbaracke, die sich Küche und sanitäre Anlagen teilten. Nach sieben Monaten zog es den damals 18-Jährigen nach Füssen. Gemeinsam mit seinem Vater, der schon ein halbes Jahr vorher in Deutschland ankam, bekamen sie eine Wohnung in der Karlstraße 6. „Es war eine Zwei-Zimmer Wohnung ohne Bad, aber es war unsere Wohnung – und das war schon etwas besonderes“, so Yilmaz. „Gewaschen haben wir uns in der Arbeit, Das war schon Luxus. Die Deutschen wuschen sich auch nicht öfters. Es gab feste Badezeiten und Badetage“, erzählt er lachend.

Manchmal fühlte man sich einsam

Die Sprache und die Einsamkeit waren anfangs die großen Hürden, gegen die man ankämpfen musste. „Die Karlstraße war nicht so mit Türken bewohnt wie jetzt. Dort wohnten überwiegend Deutsche. Jeder lebte für sich. Das war für mich schon sehr merkwürdig. Ich war es anders gewohnt. Mein Vater und ich gingen dann öfters in die Torschänke und tranken einfach ein Bier. Was sollten wir sonst tun? Arbeiten, nach Hause kommen, kochen und ins Bett gehen.“ Als Yilmaz zum ersten Mal Brot kaufen ging, nahm er vorher ein Stück Brot von den Zimmernachbarn, einem Italiener, und ging damit in die nächste Bäckerei. „Das Brot habe ich so fest in meiner Hand gehalten, dass es nur noch ein Klumpen Teig war. Ich schämte mich, weil ich nicht wusste, wie ich ein Brot kaufen sollte. Als mich die Verkäuferin dann an der Schulter antippte und mir zu verstehen gab, zu sagen was ich wollte, öffnete ich meine Hand mit dem Klumpen Brot. Sie lächelte freundlich und holte mir ein Brot“, an diese Situation wird sich Yilmaz Erbas sein Leben lang erinnern. Deutschland ist mittlerweile seine Heimat geworden. 1984 wäre er beinahe zurückgegangen in die Türkei – doch heute, heute nicht mehr. „Meine Frau Safiye sagte, wir können nicht zurück. Wir haben dort keine Wohnung. Also blieben wir hier. Und hier geht es mir bestens.“
Bereut hat es Yilmaz nie, nach Deutschland gekommen zu sein. Ich habe hier mit meiner Familie viel geschafft. Aus der Karlstraße ist er weggezogen, aber nicht weit weg. Er ist mit seiner Familie im „Türkenviertel“ geblieben. Allerdings sind es jetzt nicht mehr herunter gekommene Wohnungen. Es sind moderne, helle Wohnungen, schön eingerichtet und natürlich alle mit Bad. „Als es früher noch den Sperrmüll gab, holten sich viele Türken und andere Ausländer die weggeschmissenen Möbel, Bilder und ähnliches. Sie haben ihre Wohnungen damit eingerichtet, weil sie kein Geld hatten. Als sie sich dann Geld zusammen gespart haben und Möbel kaufen konnten, schmissen sie natürlich die alten Möbel raus. Dann hörte ich von meinen Arbeitskollegen Bemerkungen wie „Schau sie Dir an, sie schmeißen die guten Sachen weg. Dass sie aber die Ersten waren, die diese „guten Sachen“ entsorgten, vergaßen sie in dem Augenblick“, erzählt Safiye Erbas. Jeder von uns wird sich sicher noch an die „Witze“ erinnern, als man zum Sperrmüll „Festtag der Türken“ sagte.

Meine Enkelkinder kennen die Türkei nur aus dem Urlaub

Yilmaz hat seine Jugendzeit in Deutschland genossen, wie er sagt. „Man nannte mich Disco, weil ich angeblich Ilja Richter so ähnlich sah. Jedes Wochenende war ich unterwegs. Als das „Sonnenrad“ eröffnete, hatte ich dort meinen eigenen Tisch. Ich kannte die Jungen von damals und wir gingen gemeinsam aus.“ Heute sind die „Jungen von damals“ in seinem Alter und noch älter. Der Familienvater war der Erste, der in Füssen seine türkische Hochzeit im Bayerischen Hof feierte. Pionierarbeit hat er auch geleistet, als er als erster Türke in Füssen seinen Führerschein machte und ein Auto kaufte. Integration hat für ihn und seine Frau deshalb eine ganz besondere Bedeutung. „Viele Türken sind selber schuld, weil sie sich nicht integrieren. Jeder muss etwas für sein Wohlergehen tun. Wenn Einer einen Schritt auf mich zugeht, dann komme ich ihm zwei Schritte entgegen. Alle Menschen sind gleich – Religion ist Nebensache. Gute und böse Menschen gibt es überall, sie sind nicht an die Religion oder Nationalität gebunden. Ich denke, das muss man erst verstehen lernen.“ Kontakt zu Deutschen hat Yilmaz Erbas viel – „nur Hausbesuche von deutschen Freunden sind selten.  Deutsche mögen es nicht so, sich zu Hause zu treffen. Das ist sehr schade, weil man sich auf diese Art besser kennen lernen könnte und vor allem auch Vorurteile abbauen würde“, fügt Safiye hinzu. Ihre  beiden Kinder Füsun und Aysun sind hier geboren, deren Kinder mittlerweile auch. „Wir waren Gastarbeiter, unsere Kinder sind Deutsch-Türkisch und die Enkelkinder werden wahrscheinlich mehr deutsch sein“, meint Yilmaz. Ein Problem damit hat er nicht – schließlich ist Füssen ihr zuhause, die Türkei kennen sie nur noch aus dem Urlaub.

 

Text: Sabina Riegger
Bilder: Sabina Riegger (2), privat

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