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Geschichten und Gschichtla um Füssen

Erzählt von Karolina Hanauer, einer 99-jährigen Füssenerin – Teil I

Füssen.    Zu Zeiten König Ludwig II. hatte Füssen viele kleine Brauereien. Jede Brauerei hatte eine Bierstube. So wie der Gasthof Rose. Der Gasthof war in der Brunnengasse mit der Hausnummer 80, da wo jetzt die Lichtbildnerei von Manuela Höfer ist. Karolina Socher, geborene Schmölz, war die Wirtin des Gasthofes. Eine Frau, die zwei Mal verheiratet war, und schon damals ihren Mann stand.

Als Karolina Schmölz aus Roßhaupten 1878 den Bierbrauer und Rosen-Wirt Josef Hofer aus Füssen heiratete, ahnte sie nicht, wie kräftezehrend diese Arbeit im Gasthof sein würde. Mit ihren 21 Jahren war sie zwar eine junge Wirtin, doch durchaus nicht unerfahren. Denn zuvor arbeitete sie als Köchin bei ihrer Schwester Viktoria Hensel, die den Gasthof Hirsch gemeinsam mit ihrem Mann betrieb. Damals war der Gasthof Hirsch dort, wo jetzt das Restaurant La Perla ist. Karolina Hofer war eine angesehene Wirtin, so jedenfalls stand es viele Jahre später als Nachruf in der Tageszeitung.

Acht Jahre nach der Heirat verstarb ihr Mann, Josef Hofer, und die junge Frau blieb alleine mit ihrer Tochter Viktoria zurück. Für eine Geschäftsfrau war das eine Katastrophe. Denn wie sollte eine Brauerei weiter geführt werden ohne einen Bierbrauer? Viel Zeit zum trauern blieb Karolina Hofer nicht. Sie musste an die Zukunft denken.

Karolina Socher

Eine Partnervermittlung gab es früher auch, allerdings in einer abgespeckten Form. Keine Computerauswertungen brachten zwei Menschen zusammen, sondern angesehene Frauen, die sich in der damaligen Gesellschaft gut auskannten und wussten, wer noch ledig ist. Es waren Heiratsvermittlerinnen, die sich für ihre Arbeit gut entlohnen ließen. So kam Karolina Hofer zu Isidor Socher, einem Brauer und Wirtssohn aus Asch bei Landsberg. Es war eine gute Wahl. Zum einen hatte er Ahnung vom Bierbrauen und zum anderen war der Großvater Bürgermeister, also eine gute Partie. Aus Karolina Hofer wurde Karolina Socher.

Isidor Socher war nicht nur ein guter Brauer, er verstand es auch die Leute zu unterhalten, was für eine guten Umsatz sorgte. Man hat ja damals nichts gehabt, eine Zeitung hat sich kaum einer leisten können. Aufgrund dessen war die Welt begrenzt und reichte nur bis nach Augsburg. Der Wirt, der sich Neuigkeiten und Nachrichten besser merken konnte, war sozusagen die „Tagesschau“ und die wollte jeder erleben, am besten bei einem Krug Bier.

Der Blache-Fahrer

Doch sobald der „Blache-Fahrer“ wieder im Land war, waren Isidor Socher und seine Mitstreiter nicht mehr interessant genug. Sager, so hieß der „Blache-Fahrer“, ein Kaufmann auf Rädern, der Stoffe, Gewürze, Töpfe und vieles andere mehr in die Lechstadt brachte. Er war die Attraktion, ein Mann, der die Welt bereiste, auch wenn sie schon den Anschein nach in Italien zu Ende war. Wenn der Sager da war, waren alle Gaststuben voll. Jeder wollte dabei sein, wenn er bildhaft von seiner Reise und den Menschen erzählte. Der Sager war ein humorvoller Mann, der für jeden Schabernack zu haben war. So erzählte man sich die folgende Geschichte: In der Früh um 3 Uhr ging Sager über die Lechbrücke, zu der Mehlhandlung Merk. Er zog solange an der Klingel, bis der Merk verschlafen, mit einer Zipfelmütze auf dem Kopf, aus dem Fenster irritiert und fragend zum Sager herabschaute. Dieser rief zu ihm rauf: „Kannst Du mir nicht sagen, was der Napoleon für einen Bart hatte?“ Der alte Merk muss sehr geschimpft haben, das man ihn wegen so einer dummen Frage aus dem Bett holte.

Für den Sager war seine Welt in Ordnung. Die Frauen liebten ihn wegen seiner Waren, so wie Karolina Socher, und die Männer bewunderten ihn. So gab es keinen Haushalt und kein Dorf, in dem er nicht mit Freude empfangen wurde. Er war das Kaufhaus auf Rädern und er wusste, in welchem Haus es die besten „Kiachle“ gab. Der Sager war alsbald der letzte seiner Zunft. Bald darauf kamen die Geschäfte und seine Arbeit wurde nicht mehr gebraucht.

Der Alltag im Gasthof Rose ging weiter. Es war ein großes Haus mit Nebengebäuden und einem Grundstück das bis zur Reichenstraße hin reichte. Handwerker, die auf der Walz waren, übernachteten oft in der „Rose“. Eine Übernachtung kostete 50 Pfennig und wenn man ein Einzelzimmer haben wollte eine Mark. Doch bevor der Gast überhaupt nächtigen konnte, musste er nachweisen, dass er seine Übernachtung zahlen konnte und vor allem nicht krank war. Es hätte ja sein können, dass er die Krätze hatte. 

Die Sochers

Karolina Socher, die ihre Tochter in die neue Ehe mitbrachte, bekam noch drei Kinder: Isidor, Alois und Maria. Der junge Alois Socher war auch derjenige, der den elterlichen Betrieb übernahm. Nicht den Gasthof Rose, dieser wurde verkauft, weil  der Bierverkauf in der eigenen Brauerei stagnierte. Die kleinen Brauereien konnten mit der neuen Technologie des Bierbrauens nicht mehr mithalten. Da waren die großen Brauereien besser aufgestellt. Sie konnten mit dem neuen Kühlverfahren das Bier haltbarer machen und neue Gärmethoden anwenden. Die Sochers kauften den „Gasthof Sonne“. Dieser gehörte der Familie Filser schon seit drei Generationen. Alois Socher heiratete 1910 seine Lina Brem, die Köchin im Gasthof Sonne. Es war seine große Liebe.

Der erste Weltkrieg

Als der Krieg 1914 ausbrach, war es eine sehr harte Zeit. Kein Mann, der für den Krieg tauglich war, blieb zu Hause. Viele Männer in Füssen waren weg, die Frauen kümmerten sich um das Geschäft, den Hof und die Kinder. Mägde und Knechte gab es kaum, weil sie selber zu Hause helfen mussten. Manche Haushalte bekamen ein „Pflichtjahrmädchen“. Das waren im Durchschnitt 13-jährige Mädchen, die ein Pflichtjahr in einem Haushalt absolvieren mussten, bevor sie eine Lehre anfingen. Auch Karolina Socher bekam ein solches Mädchen zugewiesen. Es war Josefine Hörmann, die sich um Kinder und Haushalt kümmerte. Josefine Hörmann war froh, dass sie bei den Sochers war. Denn in einem Gasthof konnte man als „Pflichtmädchen“ sicher sein, dass man „ein Bröckle“ mehr zum Essen bekam. Einen Lohn bekam Josefine Hörmann auch, zwar nicht viel, weil man ja zu dieser Zeit selber kaum etwas hatte. Dafür freuten sich die Mädchen umso mehr, wenn sie an Weihnachten auch ein Geschenk bekamen wie ein Nachthemd oder einen Bettkittel.

Armes Füssen

Die Jahre waren bitterkalt. Schuhe waren ein Luxus. Wer welche besaß, der galt schon als reich. Als 1918 die Grippenepidemie ausbrach starben viele Füssener, darunter auch Lina Socher, die vier kleine Kinder hinterließ. Füssen war arm. Die Häuser waren nicht verputzt. Überall gab es Misthäufen und Kuhfladen auf den Straßen. Nur an Ostern wurden die Straßen blitzblank gekehrt und überall hingen Girlanden aus Tannenzweigen. Bei fast jedem Anlass wurden Girlanden und Kränze von den Buben und Mädchen im Hof geflochten und dabei wurde das Lied „Mariechen saß weinend im Garten, im Grase lag schlummernd ihr Kind…“ gesungen. Trotz Armut und Krankheit suchten die Leute sich an etwas zu erfreuen. In Füssen sah man den Menschen ihre Krankheit an. Sowohl Männer als auch Frauen hatten Kröpfe, eine Geschwulst am Hals. Sie hatten die „Bergler-Krankheit“, die von Jodmangel und schlechter Ernährung zeugte. Wie schrecklich das und vor allem wie verbreitet die Krankheit war, hört man aus dem Vers eines Liedes heraus: „Mei Madl ist sauber von Fuß bis Kopf und am Hals hat sie a Binkerl und des hoast ma Kropf.“

Alois Socher

Für Alois Socher, der seine große Liebe verlor und nun plötzlich mit vier kleinen Kindern da stand, brach sicherlich eine Welt zusammen. Er durchlitt das gleiche Schicksal wie seine Mutter, die mit 29 Jahren Witwe wurde. Socher musste heiraten, die Kinder brauchten eine Mutter, der Haushalt musste geführt werden – keine leichte Aufgabe in der damaligen Zeit. Er fand, dank einer Heiratsvermittlerin, Anna. Sie war die Zweitälteste von zehn Kindern und hatte somit Erfahrung im Umgang mit Kindern und Haushalt. Was zunächst als Nächstenliebe begann wurde tiefe und dankbare Liebe.

 

Text: Sabina Riegger
Bilder: privat

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