Kolumne

Futterneid

Er hatte kinnlanges, dunkelbraun gewelltes Haar. Als ich Ihn das erste Mal sah, hatte er ein verwaschenes Jeanshemd an, das nur bis zur Hälfte zugeknöpft war. Draußen war es heiß. Hier drin in dem kleinen Laden, war es kaum kühler. Ich stand an der Kasse und wollte bezahlen. Er war der Kerl hinter der Kasse. Ich konnte sehen, wie Ihm kleine Schweißperlen den Hals zu seinem Namensschild herunter liefen. Sein Name war Serge.

Serge sah aus wie ein alternativer Freigeist mit Vorlieben für Matcha und Yoga. Er würde das Klischee eines Philosophie-Studenten absolut bedienen. Auch wegen seiner dunklen Brille. Damit sah er aus, als würde er lesen. Viel lesen. Aber kein Science-Fiction oder Romane. Eher so Sachen wie die von Kant oder Max Frisch.

Im Hintergrund liefen die Sex Pistols… „Ich kenn‘ Dich doch“, sagt er mit rauer Stimme. Ich war mir ganz sicher, dass wir uns nicht kannten. Ich erklärte, dass er der erste Serge meines Lebens war. Wäre es anders, wüsste ich das. „Doch, im Sommer ‘95, das Picknick im Freibad. Das vergesse ich nie!“ 1995 war ich gerade einmal sechs Jahre alt. Ich erinnere mich an vieles, aber nicht an Ihn.

„Eigentlich heiße ich Jens“ sagt er weiter.

Ich frage nicht nach. Ich schweige. Serge – oder eigentlich ja Jens erzählt weiter: Damals sei er der neue Nachbarsjunge meiner Oma gewesen…

So langsam erinnere mich. Also das war so:

Die Sonne schien und es war ein richtig warmer Sommertag. Also ging meine Oma mit mir ins Freibad. Wir verbrachten den halben Tag im Wellenbad. Bis meine Oma die Mittagsruhe einläutete. Und das hieß: Ausruhen und Essen. Vor allem Letzteres. Sie holte das Radio raus, drehte es auf und breitete Töpfe, Thermoskannen und Tupperdosen, Teller, Tassen und Besteck aus.

Das Essen war noch heiß und dampfte. Es roch so gut.

Es gab Nudeln mit Hüttenkäse, Kuchen, Brot, Aufstrich, Obst, Joghurt, Wasser, Saft, Tee, Kaffee, Käse, Gurkensalat, Kekse, Burek, gedünstete Kartoffeln, und und und.

Meine Oma ist Südländerin. Da bedeutet Essen: Freude, Freunde und Zusammensein. Auch im Freibad.

Damit hätte sie alle satt bekommen. Hat Sie dann auch. Vor allem aber den kleinen, käsigen dürren Blondschopf neben uns. Sie winkte ihn zu uns und sagte: „Mensch muss essen!“ Und das tat er. Und seine Eltern und alle um uns herum.

„Aber damals, das war kein Picknick“ sage ich Ihm. Das war „Mensch muss essen“. Das ist was anderes.

Das verbindet nämlich. Bis heute.

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