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Eine Familie, drei Generationen und zwei Kulturen

In den 60er Jahren kamen viele türkische Gastarbeiter nach Deutschland. Bis zum Anwerbestopp 1973 waren es 700.000 Menschen, die in deutschen Unternehmen Arbeitsplätze fanden. Viele Gastarbeiter holten ihre Familien nach, ins Einwanderungsland, das jahrzehntelang partout kein Einwanderungsland sein wollte. Heute leben rund drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland. Seadet Alisan kam 1967 mit ihrem Mann nach Füssen. Ihre Familie lebt nun in dritter Generation in Deutschland. Sie sind Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund.

Seadet Alisan

Seadet Alisan ist 76 Jahre alt. Wenn sie an die Zeit zurückdenkt als sie noch eine junge Frau war, überkommt sie mehr Trauer als Freude. „Es waren andere Zeiten, streng genommen hatten die Frauen nichts zu sagen. Sie wurden von der eigenen Familie oder der des Mannes bevormundet. Frei entscheiden war immer mit sehr vielen Schwierigkeiten verbunden. Ich freue mich, dass meine Enkeltochter selbst entscheiden kann, was sie will.“ Sie blickt auf ihre Enkeltochter – eine junge Frau, die in München Maschinenbau studiert.

Als ihr Mann damals nach Deutschland ging, um Geld für ihre gemeinsame Zukunft zu verdienen, blieben sie und ihre 3 Monate alte Tochter bei den Schwiegereltern zurück. „Im Haus lebten meine Schwiegereltern, der Bruder meines Mannes mit Frau und seinen beiden Kindern. Ich habe die klassische Rolle der jungen Schwiegertochter gehabt. Egal, was ich für mich und mein Kind brauchte, ich musste immer darum bitten und fragen.“ Ihr Mann arbeitete in den Hanfwerken und hatte eine kleine Werkswohnung. Nach zweieinhalb Jahren kündigte er alles und ging nach Rize zurück. „Ich war froh, als er wieder da war“, erinnert sich Seadet zurück. Doch die Freude währte nicht lange. „Mein Mann hatte seinen Schneiderladen, aber wir hatten keine Wohnung und fanden auch keine.“

Nach vier Monaten fiel erneut die Entscheidung nach Deutschland zu gehen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen, um sich im Heimatort in der Türkei eine Existenz aufzubauen. Zwei Jahre wollte er wieder bleiben. Seadet wollte nicht alleine zurück bleiben. „Es war mir bewusst, dass er erst einmal alleine fahren musste, um für uns eine Wohnung zu finden und um alles vorzubereiten, damit wir nachkommen konnten.“ Dennoch nahm sie ihrem Mann das Versprechen ab, es auch wirklich so zu machen, wie sie es besprochen hatten. Drei Monate blieb sie noch bei den Schwiegereltern, bis sie endlich nach Deutschland ausreisen durfte. „Ich hatte Angst vor Deutschland, aber ich freute mich auf meine Unabhängigkeit, alleine entscheiden und mit meiner Familie leben zu dürfen, ohne Bitten und Fragen zu müssen.“

Am Anfang traute sich Seadat Alisan gar nicht aus dem Haus, das Einkaufen gehen war eine Tortur und die Verständigung erst recht. Es war eine einsame Zeit ohne gesellschaftliche Kontakte, reflektiert sie zurück. Später ging sie auch arbeiten und lernte andere Frauen kennen. Heute bereut sie es, die deutsche Sprache nicht gelernt zu haben. Sie dachte, dass es nicht nötig wäre, weil sie ja wieder zurückgehen wollten. „Mein Mann sagte immer, wir bleiben nur zwei Jahre. Nach zwei Jahren fassten wir wieder die Entscheidung, wirklich nur noch zwei Jahre zu bleiben. Aus diesen zwei Jahren sind es 50 Jahre geworden, wir sind immer noch hier und werden es sicher auch bleiben.“

Als ihr Mann in Rente ging, teilten sie sich die Zeit auf, so wie viele Andere auch. Ein paar Monate lebten sie in der Türkei, den Rest des Jahres in Deutschland. Heute ist ihr Mann ein Pflegefall und lebt mit ihr in Füssen, weil er hier eine bessere medizinische Versorgung als in der Türkei bekommt. In Füssen und Umgebung leben ihre Kinder. Sie sind verheiratet und haben mittlerweile selbst ihre Familien. Seadet sieht sich als Türkin, sie lebt nicht zwischen zwei Kulturen. Das wollte sie auch nicht.

Nezihe Terzi

Nezihe Terzi ist 53 Jahre alt. Sie ist die zweite Generation der Gastarbeiterkinder. „Unsere Generation hing in der Luft. Nicht deutsch und nicht türkisch. Manchmal war das sehr schwierig“, so die Friseurmeisterin. Als Kind hat sie den Unterschied von den zwei Kulturen nicht gemerkt. Erst später, als sie älter wurde, kam das „kulturelle Anderssein“ zum Vorschein. „Ich hatte eine wunderbare Kindheit und viele deutsche Freundinnen. Wir wohnten damals in der Glückstraße und der Brunnengasse. Da gab es keine türkischen Kinder. Erst später, als wir in die Siedlung umzogen, lernte ich Kinder aus der Türkei, Italien und Jugoslawien kennen“,  erzählt die Geschäftsfrau.

Die Siedlung, das waren die Hanfwerkhäuser, in denen nur Ausländer lebten. Es war eine in sich geschlossene Gemeinschaft, mitten in Füssen und für die deutschen Einheimischen ganz fremd. Hier passte man gegenseitig auf sich auf – ob man nun wollte oder nicht. „Als Jugendliche musste ich immer ausgleichen, erklären, warum ich etwas machen durfte und manches nicht. Nachtleben war für uns passé, außer wir hatten einen männlichen Aufpasser“, beschreibt die Mutter zweier erwachsener Kinder ihre Jugendzeit. Obwohl es bei ihr in der Familie viel liberaler zuging als in anderen türkischen Familien, durfte sie nicht studieren gehen. Auch bei ihr hieß es immer: Wir fahren zurück in die Türkei.

Sie hat die Waage gehalten zwischen der Türkei und Deutschland. Das Beste aus beiden Kulturen mitgenommen und für manches auch gekämpft. Ihren Mann suchte sie sich selbst aus. „Meine Mutter wurde verheiratet. Das hätte ich mir nicht gefallen lassen, genauso wenig das Einmischen in die Ehe und Erziehung. Familie muss einem Halt geben, aber keine Vorschriften machen und verbieten“, stellt die 53-Jährige klar. Sie hat ihre Kinder offen und ohne Ängste erzogen. Keine Einschränkungen, weil sie der Meinung ist, dass Verbote nur ein Anreiz sind, Dinge erst recht auszuprobieren. Nezihe Terzi ist eine emanzipierte Frau, die weiß, was sie will. Mit 45 Jahren startete sie noch einmal durch und machte ihre Meisterschule. „Das war für mich so wichtig und ich fand es toll, dass mein Mann und die Kinder das mitgetragen haben.“ Sie ist in Deutschland verwurzelt.

Sirin Terzi

Sirin Terzi ist 20 Jahre alt und studiert in München an der TU Maschinenbau. Sie hat die doppelte Staatsbürgerschaft und sie ist stolz auf ihre Großeltern und Eltern – was sie geleistet haben. „Ich lebe wunderbar mit den beiden Kulturen. Ich habe kein Problem damit. Zuhause sprechen wir türkisch und meine Freunde sind deutsch.“ Das Gefühl der Ausgrenzung oder des „kulturellen Andersseins“ hat die junge Frau nicht. „Wir jungen Menschen wachsen ganz anders damit auf. Für uns ist diese multikulturelle Gesellschaft etwas ganz selbstverständliches. Ich bin da rein geboren, wie viele meiner Studienkollegen oder Freunde und Freundinnen auch. Wir sind deutsch und manche mit einem Migrationshintergrund“, erklärt Sirin. Verbote kennt die junge Frau nicht. Sie kann feiern gehen, mit ihren Freundinnen in den Urlaub fahren – all das, was ihre Mutter und ihre Großmutter nicht kannten und durften.

Text · Bild: Sabina Riegger

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