Menschen

Mitten im Leben

Martin Kuen meistert Alltag trotz Behinderung

Laut dem statistischen Bundesamt leben über 10 Millionen behinderte Menschen in Deutschland. Mehr als die Hälfte davon (52 %) sind Männer. Einer davon ist Martin Kuen. Was für eine Behinderung er hat, das konnten die Ärzte damals nicht herausfinden. „Sie stellten so viele Fehldiagnosen und sprachen von einem Syndrom. Doch was für eines es war, das wussten die Ärzte auch nicht“, erzählt Maria Kuen, die 77-jährige Mutter. Sie erinnert sich an jedes Detail nach der Geburt ihres Sohnes. Sie diagnostizierten eine Nierenmissbildung und stellten fest, dass ihr Sohn überdehnbare Knochen hat. „Er konnte nicht richtig trinken, weil das Backengewebe im Mund kaputt war. Das war ganz schlimm“, beschreibt sie die anstrengende Zeit. Epileptische Anfälle kamen noch dazu und viele Operationen. Mit acht Jahren war er gerade Mal 1,07 Meter groß. „Er bekam jeden Tag von meinem Mann Wachstumshormon-Spritzen“, beschreibt sie die Odyssee. Alle Hobbys, wo sie sich hätte verletzen können, übte sie nicht mehr aus. „Ich hatte furchtbare Angst, mir könnte etwas passieren. Was wäre dann mit Martin passiert? Ich war einfach nur um jeden Tag dankbar, wenn es ihm gut ging“, so die pensionierte Lehrerin.

Martin Kuen ist mittlerweile 44 Jahre alt. Sein Wille zu überleben und sich dem Alltäglichen zu stellen war größer als die gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Er machte dank seiner Mutter den Hauptschulabschluss und fand eine Arbeit in der Kaserne in Füssen. Seit 25 Jahren arbeitet er dort und verdient seinen eigenen Lebensunterhalt. Der 44-Jährige meistert sein Leben mit der Behinderung ganz gut. „Trotzdem habe ich Angst vor der Zukunft. Dann bin ich alleine. Wie wird es weitergehen, wenn die Mama nicht mehr da ist“, fragt er ernst. Martin Kuen hätte sich eine Familie gewünscht, eine Partnerin, mit der er sein Leben leben kann, so wie sein älterer Bruder Thomas, der Hochschulprofessor ist. „Familie zu haben ist doch das Selbstverständlichste, oder etwa nicht? In meinem Alter haben alle eine Familie.“

Dass er mal ein fast normales Leben führen würde, an das hatte niemand geglaubt – aber gehofft, wie Maria Kuen sagt. Der Glauben und die Kirche haben der 77-Jährigen immer schon sehr viel Kraft gegeben. Martin Kuen ist Mitglied in drei Vereinen, unter anderem im Rehasportverein. Im Kolping- und Schindauverein ist er ein Mitglied wie jeder andere auch. Dort fühlt er sich zuhause. An seinem 30. Geburtstag bereiteten ihm die beiden Vereine eine Geburtstagsfeier vor, von der er heute noch schwärmt. „Da bekam ich meinen Zylinderhut“, sagt er stolz. Ab da gehörte er fest zu den Schindauer-Ratsherren, einer kleinen Gruppe, die am Fasching Lieder singt, Aufführungen macht und stets in Frack und Zylinder auftritt. Inklusion hat in den beiden Vereinen bestens geklappt. Für Martin Kuen war der Eintritt in die Vereine das Tor zum gesellschaftlichem Leben. Früher sang er im Kirchenchor Zu den Acht Seligkeiten. Heute singt er im St. Mang Kirchenchor. Dass er nicht unbedingt zu den talentierten Sängern gehört, ist dem 44-Jährigen klar. Aber Singen macht ihm Spaß, genauso wie das regelmäßige Treffen am Stammtisch in der Markthalle. Trotz seiner Behinderung hat er in der Gesellschaft einen festen Platz gefunden. Er ist mittendrin im Leben.

Text: Sabina Riegger · Bild: Hubert Riegger

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