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„Mit dem Körper sprechen – ohne Worte“

Osteopathie für Kinder

Er schaut sie mit seinen großen Kulleraugen an und ihr ist sofort klar, dass es gleich wieder losgehen wird. Punkt zehn, eigentlich ihre Zeit ins Bett zu gehen. Einen kurzen Moment kann sie noch: „Oh nein, bitte nicht schon wieder“, denken und dann geht es auch schon los. Ohrenbetäubendes, an den Nerven zehrendes Geschrei. Wie lange wird es wohl dieses Mal dauern? Eigentlich weiß sie schon Bescheid, aber sie versucht es trotzdem, hat er Hunger, ist seine Windel voll, möchte er getragen oder geschmust werden? Sie weiß es nicht und es zermürbt sie. Eines aber weiß sie ganz sicher, es geht ihm nicht gut. Er hat etwas und möchte es ihr mitteilen, nur leider kann er ihr noch nicht in Worten sagen, was ihm fehlt. Er ist noch kein Jahr alt und schreit manchmal stundenlang, für sie zumeist ohne ersichtlichen Grund. Ihr Mann, ihre Eltern und Verwandte, alle versuchen mit Tipps zu helfen, nichts hilft. Endlich der Rat Ihrer Hebamme: „Geh’ doch mal zum Osteopathen, das hat schon manchem Kind geholfen“… Osteopathie, noch nie gehört, was ist das und wie kann das helfen?

Begründer der Lehre von den „heilenden Händen“ ist Andrew Taylor Still (1828-1917). Er suchte nach neuen Wegen und erkannte, dass er durch sanften Druck seiner Hände Selbstheilungskräfte im Körper aktivieren kann, die Spannungen lösen und sogar Krankheitssymptome beseitigen. Hiermit war der Grundstein für eine neue Behandlungsmethode gelegt. 1892 gründete er die „American School of Osteopathy“ und gab seine Lehre an viele Studenten weiter.

In Deutschland jedoch ist die Geschichte der Osteopathie noch relativ jung. In den 1950er Jahren hatten vereinzelt Heilpraktiker angefangen, osteopathische Techniken zu praktizieren, die sie im Ausland erlernt hatten. Die eigentliche Verbreitung begann erst Ende der 1980er Jahre. Osteopathie-Schulen, vorwiegend aus Frankreich und Belgien, gründeten deutsche Niederlassungen, an denen bis heute Physiotherapeuten sowie Ärzte, Heilpraktiker, Masseure und medizinische Bademeister die Osteopathie berufsbegleitend erlernen.

Stills ursprüngliche Lehre wurde immer weiter entwickelt – und wird heute besonders bei Kindern erfolgreich angewandt. Beginnend beim Neugeborenen. Wie funktioniert das?
Unser Körper besteht aus unzähligen Strukturen wie Knochen, Muskeln, Sehnen und Organen. Ein Knochen beispielsweise ist eine harte Struktur, die dem Körper Halt gibt, für Festigkeit sorgt und vor Druckbelastung oder Zugbelastung schützt. Ein Muskel hingegen kann sich zusammenziehen und dehnen und ermöglicht so erst den Knochen, sich zu bewegen. Es ist jeweils die Funktion, die eine Struktur zu dem macht, was sie ist.

Ändert sich die Funktion, dann ändert sich auch die Struktur. So wächst ein Knochen, wenn er ständig unter Druck- und Zugbelastung steht, genauso wie ein Muskel stärker wird. Werden Knochen oder Muskeln nicht mehr gebraucht, dann werden sie schwach und verkümmern. Gleiches gilt für alle anderen Strukturen des Körpers: ein Mehr an Funktion führt meist zu einem Mehr an Struktur und umgekehrt. Für die Osteopathie ist dieses Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit von Struktur und Funktion wichtig. Denn Funktionsstörungen zeigen sich als beeinträchtigte Bewegungen einer Struktur. Indem der Osteopath die Bewegungen überprüft, kann er eine Funktionsstörung feststellen. Anschließend hilft der Osteopath mit seinen manuellen Techniken der Struktur zu ihren ursprünglichen Bewegungen zurückzufinden. Stimmen die Bewegungen der Struktur wieder, dann kann diese erneut in vollem Umfang funktionieren.

Wieso kann das schon bei Neugeborenen wichtig sein? Bis eben noch sicher und geborgen beginnt der Weg ins Leben für das Neugeborene mit seinem ersten Trauma. Unvorstellbar groß sind die Kräfte, die während der Geburt auf das Neugeborene einwirken. Schädelknochen verbiegen und verschieben sich im engen Geburtskanal. Alle Gewebe werden so starkem Druck ausgesetzt, dass sogar das Köpfchen zeitweilig eine andere Form annimmt.

Aus diesem Grund hat die Natur dem Gewebe eine hohe Flexibilität geschenkt. Wird die Schwelle der Strapazierfähigkeit der Gewebe jedoch überschritten, können schwerwiegende Folgen für das Neugeborene auftreten. Viele dieser Folgen erkennen wir bereits direkt nach der Geburt. Einseitige Haltungen des Kindes, vermehrtes Schreien, schwaches Saugen und Schlucken, Verdauungsstörungen und vieles mehr können auf ein Geburtstrauma hinweisen.

Vieles war ihr selbst gar nicht aufgefallen, aber am Anfang stellte ihr der Osteopath viele Fragen, unter anderem, ob es vielleicht immer die gleiche Uhrzeit sei, wenn er schreit? Auf welcher Seite er am Liebsten liegt? In welche Richtung er den Kopf dreht und ob er das schon kann? Ob er auf einer Seite mehr trinkt, als auf der anderen? Hat er somit eine Schokoladenseite?
Ja, er hat eine Schokoladenseite und tatsächlich, es ist immer ungefähr die gleiche Zeit, wenn er schreit und was war da? Genau zu diesem Zeitpunkt setzten die Presswehen ein und dann kam er eine gefühlte Ewigkeit nicht raus. Für den Osteopathen ganz klar ein Geburtstrauma und durch die blockierten Halswirbel eine Trinkschwäche, so dass er eigentlich doch immer Hunger hat, aber nicht genug Kraft hat ausreichend zu trinken. Sie kann nicht genau sehen war er macht, er ist sehr einfühlsam und zart mit ihrem Sohn, fast schon zärtlich. Er drückt und schiebt ganz vorsichtig, wie bei einem rohen Ei. Es sieht so aus, als würde er mit ihm, mit seinem Körper eine Unterhaltung führen, nur eben ohne Worte. Aber genau diese Sprache verstehen Babys und obwohl ihr Sohn oft fremdelt liegt er ganz ruhig und entspannt und lässt gerne mit sich machen, was da gemacht wird.

Nach 15 Minuten sagt der freundliche Osteopath, er sei fertig. Ob das jetzt wirklich geholfen hat? Als Laie, so von außen, würde sie sagen, auf keinen Fall. Wie soll das gehen? Aber gut, geschadet hat es ja sicherlich nicht.
Sie fahren nach Hause und sie soll auf die Uhrzeit achten und eventuell ein zweites Mal zur Nachbehandlung kommen. Punkt zehn, eigentlich ist sie jetzt müde, aber sie weiß ja, was jetzt kommt. Sie schaut in seine großen Kulleraugen und kann kaum glauben, was sie sieht….Schatz komm’ schnell her. Unglaublich was gerade passiert. Eine Sprache, die jeder Mensch versteht… ihr Sohn lacht….

Text · Bild: Sandra Plößer

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