Menschen

„Die Sehnsucht war immer da“

Dieses Jahr wurde der Forggensee zum 60. Mal aufgestaut. Der fünftgrößte bayerische See mit einer Länge von 12 Kilometern und einer Breite von bis zu drei Kilometern wurde nach einer der beiden überfluteten Ortschaften Forggen benannt. Dort, wo heute Einheimische und Urlauber im Sommer mit dem Forggenseeschiff, Segelbooten oder Surfbrettern über den See gleiten, waren einmal zahlreiche Menschen zuhause.

Die Weiler Deutenhausen, Forggen, Teile von Brunnen bei Schwangau und das untere Weidach in Füssen fielen der Aufstauung zum Opfer. Ob man von Glück oder Pech sprechen kann, hängt vom Blickwinkel und von den betroffenen Menschen ab. Mit dem Forggensee ist ein neues Rekreationsgebiet entstanden, das den Tourismus ankurbelt und nicht zuletzt auch die Wirtschaft.

Erinnerungen an früher

Es gibt sehr viele Geschichten rund um die versunkenen Dörfer und ihre Menschen. Eine davon ist von Johann Schwarzenbach. Er war damals 10 Jahre alt, als es hieß, Koffer packen und gehen. Seine Eltern hatten einen Gasthof. Die Grundmauern kommen auch heute noch, im Winter, wenn der See abgelassen wird, zum Vorschein. Der Gasthof lag am Beginn einer langen Wegstrecke, die große Steigungen aufwies und erst am steinernen Kreuz bei Roßhaupten endete. Der Schwarzenbach- Wirt hielt für die Bergstrecke den dafür notwendigen Vorspann – Pferde und Ochsen – bereit. Da die Fuhrleute bei guter Sicht auch nachts unterwegs waren, schlief der alte Wirt stets vollständig gekleidet in der unmittelbar an der Straße gelegenen Wirtsstube. Brauchte ein Fuhrmann Hilfe, so schnalzte er rechtzeitig mit der „Goaßl“ und schon war der Wirt zur Stelle und schirrte ein. Der frühe Arbeitsbeginn ließen ihn immer wieder einmal launig verkünden: „Wenn in Rieden die Bauern aufstehn, hab`n mir unser Geld schon g`macht“. An diesen Spruch seines Großvaters kann sich Johann Schwarzenbach noch sehr gut erinnern. „Ich kann mich noch an diese wunderschönen Auen erinnern, so eine schöne Landschaft habe ich noch nie gesehen.“ Heute ist Johann Schwarzenbach 70 Jahre alt. Wenn er auf der Terrasse seines Landhotels steht, blickt er auf den Forggensee.

Hausnummer 85 in Dietringen, so lautete die Anschrift des Gasthofes, der unterhalb von Dietringen lag. „Ich kann mich noch bestens an alles erinnern. Mit zehn Jahren bekommt man alles mit. Ich kann mich noch an den Schropp erinnern. Er war bei uns beschäftigt, ein Ur-Dietringer. Er hatte einen Bart und eine tiefe Stimme und weil er so a bisserl rustikal war, hatte ich mich vor ihm gefürchtet“, denkt Johann Schwarzenbach zurück. Auf einem Bild ist „der Schropp“ mit seinen Eltern und Schwestern zu sehen. Ein uriger Typ, allerdings nicht wirklich mit einem Rauschebart. Der Gasthof lag direkt an der alten B 16. Gegenüber war die Landwirtschaft. Als der Staudamm gebaut wurde, hatte seine Mutter für einen Teil der Bauarbeiter gekocht. Der Rest aß in der Kantine, die eigens für die Zeit der Bauarbeiten gebaut wurde. „Die Bauarbeiter kamen von überall her, einige waren auch aus Füssen“, weiß der heute 70-Jährige. „Als Kind konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, wie groß der See wird.

Für meine Eltern, besonders für meinen Vater, war es sehr schlimm, als es hieß, wir müssen weg. Die Direktoren von der BAWAG waren bei uns, da hat mein Vater den Vertrag unterschrieben, dass er sein ganzes Anwesen hergibt. Anfangs hatten sie gedacht, sie könnten uns irgendwo im Umkreis von Marktoberdorf unterbringen, auf irgendeinem der leeren Höfe. Da hat mein Vater gesagt, „Nein, nein, meine Herren. Die Schwarzenbachs waren schon immer an der Straße“. Dann ist er mit denen auf die Straße raus und zeigte mit dem Finger, „da rauf will ich, sonst brauchen wir nicht miteinander reden.“ Es war schon eine sehr belastende Angelegenheit für meine Eltern“, erzählt Johann Schwarzenbach. Viele Felder hatten den Schwarzenbachs bereits an der neuen Stelle gehört. Lediglich ein Feld tauschten sie mit einem Bauern. Alle sechs Kinder haben sich gesträubt umzuziehen. „Wir hatten es unserer Mutter nicht unbedingt leicht gemacht. Für uns war es hier oben ein fremdes Haus. Wir haben unser Paradies verloren. Wir hatten einen riesen Garten mit Hühnern, Gänsen und Enten und einen kleinen Weiher mit Fischen. Es gab Erika, Seidelbast, die Viehweiden waren voll von Enzian und Primeln, Föhren, Weiden – es war ein wirkliches Naturparadies. Überall gab es Tümpel, manche größer und manche kleiner und das Wasser war so klar. Da waren nur wir. Weiter oben war der Müller Georg, die haben auch weg müssen, der Müller Markus, der konnte bleiben, der war weiter oben. Uns gehörten 30 Tagwerk, das waren hauptsächlich Jungviehweiden“, blickt Schwarzenbach zurück. Er war der Sohn des „Dietringer“ Wirts, der auch gerne der „Pollinger Wirt“ genannt wurde. Sein Bier holte der Wirt damals mit seinem Fuhrwerk aus Polling. Nach dem Umzug 1953 veränderte sich vieles. Es wurden neue Geschichten geschrieben, ein neues Leben begann mit großer Sehnsucht nach dem alten. „Mein Vater hat den Umzug nie richtig verkraftet. Er hatte immer Sehnsucht und wenn er träumte, dann träumte er nur von seinen Lechauen.“ Johann Schwarzenbach erinnert sich gerne zurück, an die schönen Zeiten seiner Kindheit, wie zum Beispiel an den täglichen drei Kilometer langen Fußmarsch in die Schule nach Rieden. „Manchmal hab ich Rehböcke gesehen, die miteinander gekänpft haben, dann habe ich mich hinter einem Baum versteckt bis es vorbei war. Da war die Welt schon ein bisschen mehr in Ordnung.“

Im Zuge des 60-jährigen Jubiläums findet am Samstag, den 8. November 2014 um 19 Uhr, eine Podiumsdiskussion im großen Saal des Schlossbrauhauses Schwangau statt. 60 Jahr Forggensee – Zeitzeugen der versunkenen Orte erzählen.“

Text · Bilder: Sabina Riegger

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