Menschen

Ein Vater und Deutschland wandern für ein besonderes Mädchen

2.058 Kilometer für Charlotte

René Müller hatte eine gewaltige Strecke vor sich. Und das sprichwörtlich. Der ursprüngliche Plan des 31-Jährigen aus Schwangau war es, im Zeitraum von Pfingstsonntag, 8. Juni, bis Samstag, 21. Juni, 580 Kilometer einmal quer durch Deutschland bis in seine alte Heimatstadt Bad Berleburg zu wandern. Das wären in etwa 40 Kilometer am Tag. Eine enorme sportliche Herausforderung und noch dazu ein wunderschönes Projekt, das unter dem Motto „Wandern für Lotti“ laufen sollte. Doch es kam alles ganz anders.

Charlotte ist die dreieinhalbjährige Tochter von René und Stefanie Müller. Die Ärzte vermuten bei ihr einen bislang unbekannten Gendefekt, weshalb sie stark entwicklungsverzögert ist und weder sitzen, sprechen, laufen oder selbständig essen kann. Die Medizin ist noch nicht so weit, dass sie den Müllers eine Diagnose, geschweige denn eine Prognose für Lottis Entwicklung oder Zukunft geben könnte. Statt tatenlos zu warten, beschlossen die jungen Eltern deshalb alles erdenklich Mögliche zu versuchen, was ihrer Tochter helfen könnte. Gefragt sind also viel Gefühl und Offenheit, etwas Kreativität  und gute Ideen, um Charlotte individuell zu fördern. Bisher haben sie gute Erfolge erreicht mit einer Reit- und einer Schwimmtherapie, bei denen sich die motorischen Fähigkeiten und die  Konzentrationsfähigkeit des kleinen Mädchens merklich verbessert haben.

Für René und seine Frau ist es wichtig, dass Charlottes Behinderung nicht ihr Leben diktiert. Die Familie (dazu gehört auch der quietschfidele Bruder Felix, 10 Monate alt, und die große Schwester Sophie, 6 Jahre) wächst mit, wächst hinein in den Alltag, der eben „einfach“ anders organisiert wird. Für ihr drittes Kind haben sich die Eltern bewusst entschieden. Hobbies sind den Müllers wichtig und wenn sich Zeit dafür findet, geht René gern in die Berge. Stefanies Leidenschaft ist Tanzen, sie unterrichtet einmal wöchentlich Ballett. Abschalten und Kraft tanken für den nächsten Krankenhausaufenthalt, das brauchen sie beide, denn Charlotte hat sporadisch epileptische Anfälle. Ansonsten ist Lotti, wie sie liebevoll genannt wird, ein fröhliches und gutgelauntes Kind, das meistens lacht und auf alles, was bunt und laut ist, mit glucksenden Geräuschen reagiert. Tiere beruhigen sie, und sie streckt ihre Hände nach ihnen aus, egal ob Hund, Schmetterling oder Pferd. Lotti besucht daher auch regelmäßig therapeutische Reitstunden.  Besonders gern liegt sie neben ihrem kleinen Bruder Felix oder lässt sich von ihrer großen Schwester spazieren fahren.

Aufgrund der augenscheinlichen Resonanz auf Tiere entstand die Idee einer Delphintherapie für Charlotte. Da diese nicht billig ist, vor allem, wenn die Delphine artgerecht in freien Meeresbecken gehalten werden, sahen die Müllers ein, Hilfe von außen anzunehmen. Einfach ihre Hände aufhalten und um Spenden bitten ist jedoch nicht ihre Art und deshalb entstand die Aktion „Wandern für Lotti“, bei der für jeden von Vater René gewanderten Kilometer einen Cent von den Spendern erbeten wurde. Er hatte sich auf diese Tour gewissenhaft vorbereitet und regelmäßig trainiert. Er war bereits mit vollem Rucksack einige Tagestouren von ungefähr 40 Kilometern marschiert und hatte den Vatertag im Höhentrainingslager verbracht. Der Termin der Wanderaktion stand seit Monaten fest, Unterkünfte waren gebucht, Zeitungen informiert, Strecken detailliert geplant anhand von Wanderkarten, für einige Strecken hatten sich Mitwanderer angemeldet. Womit allerdings niemand hatte rechnen können war die brütende Hitze, die René in den ersten drei Tagen seiner Tour sprichwörtlich fast zu Fall gebracht hätte. Am Abend des dritten Tages erlitt er fast einen Kreislaufzusammenbruch und seine Füße entzündeten sich und schwollen extrem an. Nach dem Befund des Arztes, der dringend davon abriet, die Wanderung fortzusetzen, entwickelte sich aus dieser herben Enttäuschung eine weitere Idee. Aufgeben, nein danke. Dann wandert eben ganz Deutschland für Charlotte. Jeder, der wandert, egal wohin, konnte bis zum Tag des Zieleinlaufs seine Kilometer auf der Webseite von Charlotte posten und so dazu beitragen, dass die 580 Kilometer zu Ende gelaufen wurden. Der Endstand der gelaufenen Kilometer am Tag des Zieleinlaufs waren stolze gesammelte 2.058 Kilometer. Die Müllers sind stolz, dankbar und schauen der Therapie für Charlotte zuversichtlich entgegen. Auch wenn die Aussichten ungewiss sind, erhoffen sie für ihre Tochter weitere kleine Fortschritte, sodass sich ihre Feinmotorik weiterhin verbessert und sie lernen kann, Gegenstände selbständig zu greifen. Vielleicht wird sie eines Tages auch ohne Stütze sitzen können. Das sind die Wünsche und Hoffnungen der Eltern; eben kleine Schritte und wie sie selbst sagen, oft merken sie gar nicht, wie viele sie schon wieder gemeinsam zurückgelegt und gemeistert haben.

Text · Bild: Eva Riggs

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