Menschen

Verlorenes Stück Heimat

Erinnerungen

Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches, die die Naziherrschaft miterlebt und den anschließenden Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 überlebt hatten, erlitten auch danach noch schlimme Schicksale: Nach dem sowjetischen Vormarsch ab Oktober 1944 setzten sich gewaltige Flüchtlingstrecks zunächst aus Ostpreußen, dann aus Schlesien, Pommern und Ostbrandenburg, später aus dem annektierten Sudentenland in Richtung der westlichen Reichsgebiete in Bewegung. Im Anschluss an die individuelle Flucht erfolgte nach den Potsdamer Beschlüssen unter internationaler Aufsicht die Zwangsaussiedlung ab Anfang 1946. Ungefähr 12 Millionen Ost- und Sudetendeutsche verloren ihre Heimat und wurden in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich aufgenommen. Mancherorts, wie zum Beispiel in Mecklenburg, verdoppelte sich die Einwohnerzahl und stellte alle Beteiligten vor eine enorme Integrationsleistung durch unterschiedliche Tradition, Konfession und Lebensstil.

Über 2 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene fanden in Bayern ihre neue Heimat. Die Besatzungsmächte leiteten gezielt Vertriebene in das damals dünn besiedelte Bayern, vor allem in kleinere Orte mit unter 5.000 Einwohnern. Die Bevölkerungszahl wuchs in den 1940er und 1950er Jahren um ein Viertel an, vielerorts mussten die Menschen anfangs in Lagern und Notwohnungen ausharren, manche sogar jahrelang.

Auch unsere Region war stark betroffen. So nahm beispielsweise Schwangau ungewöhnlich viele Menschen auf. Auf vielen Internetseiten der Hotels im Füssener Land finden sich in deren Geschichte Hinweise auf die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen. Dafür,  dass diese Aufnahmen, vor allem in Jugendherbergen, Hotels, Schulen, Bauernhöfen etc. durch die amerikanische Besatzungsmacht angeordnet und eine sofortige Integration der Heimatvertriebenen gefordert wurde, funktionierte diese trotz übervoller Häuser verhältnismäßig gut.

Lieselotte Trenchard geb. Bartsch aus Königsberg / Ostpreußen, das heute zu Nordwestrußland gehört, war 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter die Heimat verlassen musste und am Ende ihrer Flucht in Füssen ankam. Sie befand sich im Frühherbst 1944 im Urlaub auf dem Gut des Grafen zu Dohna-Schlohdien im Ermland, als in der Nacht Kanonendonner zu hören war. „Die Ausreise bzw. Flucht aus Angst vor den Russen war verboten, Gauleiter Koch jedoch stellte die Ausreisepapiere in das Reich für all jene aus, die rauswollten.“ Lieselotte Trenchard und ihre Mutter hatten jede nur einen Koffer bei sich, als sie in den Zug stiegen. Alles andere blieb zurück, auch die Menschen, die sie ohne Abschied verlassen mussten. Diese Entscheidung erwies sich aber als großes Glück, denn später, vor allem zum Jahresanfang 1945, wurde der Zugverkehr zum Reich auf allen Strecken gesperrt und dieses war bei eisigen Temperaturen nur noch durch die schmale Landbrücke der Frischen Nehrung Richtung Westen erreichbar.

Wer von der zumeist zivilen deutschen Bevölkerung später auf der Flucht war, wurde mit Grausamkeiten wie Zerstörungen, Plünderungen, Mord und Vergewaltigungen durch die russischen Sieger konfrontiert. Lange Flüchtlingstrecks rollten mit dem bisschen Besitz im tiefsten Winter bei eisigen Temperaturen von Ostpreußen in Richtung Westen. Tausende starben auf der Flucht über Land oder auf der zum Teil zugefrorenen Ostsee.

Lieselotte Trenchard erinnert sich an die übervollen Züge – sie saßen auf ihren Koffern – und die Ankunft in der Jugendherberge in Bad Faulenbach, in der sie vorerst untergekommen waren und herzlich von den Herbergseltern Dichtl aufgenommen wurden. Später wurden sie für ein halbes Jahr einem Privathaus zugewiesen. „Der Winter war eiskalt, wir schliefen in unseren Mänteln und morgens war das Wasser in der Waschschüssel gefroren. Ich war noch so jung, dass mich das nur amüsierte“ sagt sie und „Was ich am erstaunlichsten fand als wir ankamen war, dass hier kein Mensch mit dem strammen Hitlergruß grüßte, sondern mit einem einfachen Grüß Gott. Und außerdem verstanden wir zunächst kein Wort, später habe ich selber den Dialekt angenommen.“

Überall waren die Menschen freundlich, obwohl sie zu Solidarität gezwungen wurden. Später kamen Frau Trenchard und ihre Mutter in Weissensee bei einem Bauern unter, wo sie melken und „heuben“ lernten, zudem standen bei den Bauern auch meist mehr Lebensmittel zur Verfügung. Lieselotte Trenchard: „ Ich bin nie mehr nach Königsberg, das heute Kaliningrad heißt, gefahren, weil ich es so schön wie damals in Erinnerung behalten wollte.“ Dass die schöne ostpreußische Sprache nicht mehr gesprochen wird findet sie auch sehr schade, sie hatte einen sehr melodischen Klang.

Drei heimatvertriebene Schwestern aus dem Sudetenland (heute tschechisch), die heute noch alle in Seeg wohnen, wurden im Juni 1946 von ihrem Heimatort Stelzenburg bei Chodau Nähe Karlsbad im Egerland vertrieben. Sie waren damals 16, 14 und 7 Jahre alt. Mit ihrem Opa und der Mutter wurden sie mit LKWs in ihrem Haus abgeholt. Jede Person durfte Gepäck bis 40kg mit sich führen, alles von Wert musste zuvor abgeliefert werden (Radio, Papiere, Geld etc.). Zunächst wurden alle in ein Sammellager gebracht und ohne überprüft zu werden entlaust, dann ging es mit Viehwagons mit lediglich einer Pause bis Haunstetten bei Augsburg weiter, in ein kaltes Barackenlager mit Pritschen. „Von hier aus wurden wir verteilt, wir kamen alle zusammen in ein Lager in Kempten, das wir nicht verlassen durften. Die schlechten hygienischen Bedingungen und das wenige Essen sind uns in Erinnerung geblieben.“ Später kam die Familie zu Bauern nach Oy-Mittelberg , wo sie anfangs nicht sehr willkommen waren, durch die Mithilfe auf dem Bauernhof aber wurden sie schnell akzeptiert. „Wir durften bald am Tisch mitessen.“

Wiederum später wurden sie Bauern in Seeg zwangszugewiesen. Der große Vorteil in Seeg war, dass die Mutter und die mittlere Schwester klöppeln und damit ihr erstes eigenes Geld verdienen konnten. Das Klöppeln war in ihrer Heimat Tradition. In Seeg hatten die Menschen anfangs Vorurteile gegenüber den „Fremden“, die nichts hatten und eine andere Aussprache hatten, aber mit der Zeit wuchs man zusammen, mehr noch, die Vermischung war eine Bereicherung. Die Egerländer sind lustig, tanzen und singen gern. So gab es bald Flüchtlingsbälle und Flüchtlingskränzle (auf denen die Kapelle Pleier spielte), mit der Zeit nahmen auch die Einheimischen gerne teil. Allgemein bedeutete nicht nur für die Flüchtlinge und Vertriebenen der Verlust der Heimat eine große Veränderung des gesamten Lebensumfeldes, sondern auch die Orte mit hohem Zuwachs an Neubürgern veränderten deutlich ihr Gesicht. Im Nachhinein kann man diese Tatsache durchaus positiv bewerten. Die heimatlosen Deutschen trugen mit ihrem technischen, handwerklichen und akademischen Wissen in ganz Deutschland wesentlich zum Wiederaufbau bei.

Bekannte Beispiele für Neufanfänge in der neuen Heimat Allgäu sind die Textilfabriken Kunert und Ergee, deren Firmen beide von der Tschechoslowakei enteignet und verstaatlicht und die Inhaber nach Bayern ausgewiesen wurden . Beide bauten im Allgäu die Textilwarenproduktion wieder auf (Immenstadt bzw. Sonthofen). In Kaufbeuren entstand sogar ein ganzer Stadtteil : Neugablonz , in der die Gablonzer Schmuckproduktion fortgeführt wurde.Wie diese Zeiten für die Menschen war, die den Krieg und die anschließenden Nachkriegsjahre miterleben mussten, können wir aus den folgenden Generationen, die in friedlichen Zeiten aufgewachsen sind, nur erahnen.

Text : Christina Bischof-Brenner · Bilder: privat

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